Behindertenfeindlichkeit
Brigitte Betzel-Haarnagel, 1993
Mein erstes, ernsthaftes Erlebnis zu diesem traurigen Thema hatte ich 1981.
Es hat mich damals zutiefst betroffen, und lange Zeit hielt ich dieses Erlebnis für das Schlimmste, was einem behinderten Menschen angetan werden kann.
Heute weiß ich - es war ein harmloser Teil der Anfänge, denen auch schon damals nicht mit Erfolg gewehrt werden konnte.
Im Sommer dieses Jahres sammelte ich zusammen mit einigen Mitgliedern der integrativen Jugendgruppe Integ-Kiel an einigen Samstagvormittagen in der Kieler Innenstadt Unterschriften, um die Bauherren
der Landeshauptstadt darauf aufmerksam zu machen, wie viel unnötige und vermeidbare , bauliche Barrieren und Hürden für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Menschen, in den öffentlichen Bereichen
vorhanden sind.
Es war das große Anliegen unserer, damaligen Arbeitsgruppe, darauf hin zu wirken, dass diese Hürden erkannt und beseitigt werden, und dass in Zukunft nicht noch mehr solcher baulichen Mängel
entstehen sollen.
Damals wurde gerade der Liedermacher Siggi Maron, selbst Rollstuhlfahrer, bekannt mit seinem Song „Guten Morgen Herr Architekt“, der genau diese Problematik aussprach.
Auch mein guter Freund Rolf - inzwischen bekannt durch den Film „Alleingang zu zweit“ der einen Teil seines behinderten Lebens widerspiegelt, das er mit Hilfe von zwei Zdlern, heute Assistenten,
trotz seiner sehr schweren Spastik, autark führt - nahm an besagter Aktion teil.
Rolf ist ein typischer, netter Junggeselle und lebt in einem kleinen Halbhaus zur Miete.
Ich mochte Rolf schon, solange wir uns kannten, sehr gern. Vor allem, weil er immer ein wirklich offenes Ohr für seine Mitmenschen hat und sich trotz der Schwere seine Behinderung nicht
bemitleidet. Er hat sein Leben so angenommen, wie es ist und er lebt gerne.
Wir sprachen Passanten auf der Strasse an und diskutierten mit Ihnen über unser damaliges Schwerpunktthema.
Die meisten Passanten hörten uns zu und verstanden, worum es uns ging. Viele Menschen waren bereit unser Anliegen durch ihre Unterschrift zu unterstützen.
Einige der Angesprochenen gaben auch unumwunden zu, sich bis heute noch nie mit dieser Problematik befasst zu haben, und dass es ihnen gar nicht bewusst sei, was es für einen Menschen bedeuten muss,
nicht über die vielen Treppen allerorts, oder durch die oft viel zu engen Türen zu kommen, nicht einmal, wenn ein Helfer mit dabei ist.
Viele Menschen sahen ein, dass sich etwas ändern muss und diese unnötige Ausgrenzung behinderter Menschen endlich ein Ende bekommen musste.
Alles in allen waren wir mit dieser Aktion sehr erfolgreich und sie trug auch späterhin ein paar positive Früchte.
Gegen Mittag fragte Rolf mich, ob ich mit ihm zum Eiscafe an der Ecke gehen könnte, um für ihn dort ein Eis zu kaufen, und es für ihn halten zu können, damit er das Eis zu sich nehmen kann. Seine
Arme sind kontraktiert und er kann sich selber dieses Eis nicht vor seinem Mund halten.
So gingen wir gemeinsam zu dem Eiscafe und reihten uns, in die Schlange der wartenden Eishungrigen auf dem Gehweg ein.
Dass uns einige Leute etwas sehr intensiv anschauten, waren wir ja schon gewohnt.
Rolf fuhr in seinem elektrischen Rollstuhl. Dessen Steuerung war durch ein Haltegestell über seinen Schultern so angebracht, dass es ihm möglich war, den Rolli mit Kinn und Mund zu steuern. Die so
ziemlich einzige Möglichkeit, für ihn, eigenständig mobil sein zu können.
Doch zurück. Gerade hatte Rolf genüsslich zum dritten Mal an seinem Eis geschleckt, da blieben auf einmal zwei Jugendliche neben uns stehen.
Der Eine meinte laut und deutlich: “Ach, sieh doch mal an , ein Krüppel.“. Worauf der Andere sagte: “Und auch noch ein Sozi.“.
Rolf hatte nämlich auf den Seitenteilen seines E-Rollis einige Aufkleber der SPD, und es gab auch überhaupt keinen Grund, aus seiner Parteizugehörigkeit einen Hehl zu machen.
Die Betonung der beiden Sätze, die die Jugendlichen ausriefen, war voller abwertenden Hass und die Blicke der beiden Merkwürdigkeiten voller kalter Verachtung.
Da beleidigte gerade jemand aufs Übelste einen guten Freund von mir, der noch nie im Leben einer Fliege etwas zu Leide getan, und auch jetzt in diesem Moment Eis essender Weise, keinen Grund
zur Anmache geliefert hatte.
Ich lief vor Wut rot an im Gesicht und war gerade dabei, tief Luft zu holen, um den beiden Monstern etwas Passendes hinter her zu rufen, als Rolf den Kopf schüttelte und zu mir sagte: “Sei still,
sonst kriegst Du von denen noch was auf die Schnauze.“. Auch Rolf hatte inzwischen einen hochroten Kopf bekommen, aber er wusste, es ist besser aus Sicherheitsgründen Ruhe zu bewahren.
Vor meinen Augen lief ab, was die Beiden Irren wohl mit Rolf gemacht hätten, wäre er ihnen allein begegnet, oder sogar bei Dunkelheit. Hätte er ihren Hass dann auch physisch zu spüren bekommen?
Uns Beiden war die gute Laune erst mal bis auf weiteres verdorben.
Doch gegen all das, was heute in der Luft schwebt, war das alles ein gerade noch zu verkraftendes Geschehen.
Heute habe ich Angst um meine Kinder, von ihnen sind zwei schwer behindert, und es passiert so ab und an, dass ich mich nicht traue, mit ihnen durch eine Stadt zu gehen.
Ich habe Angst um meine behinderten Freunde, Angst, dass ihnen wehgetan wird und dass ihnen ihr Leben nicht gegönnt wird.
Vielleicht bin ich inzwischen zu pessimistisch geworden, aber so manchmal verliere ich mein Vertrauen in die Menschen.