Belastbar?
Brigitte Betzel-Haarnagel, 1995
Au weia, schon wieder Sommerferien, fast sieben Wochen keine freie Minute mehr mit zwei Kinderchen, wovon eigentlich keines auch nur einen Moment alleine gelassen werden kann.
Alles Mögliche bleibt liegen. Bergeweise Bügel und Flickwäsche, das Unkrautjäten im geliebten Garten, diverse Reinigungsaktionen und am Ausbau vom Martins Zimmer weiter zu arbeiten- kaum noch dran zu
denken. Vielleicht habe ich nachts ja noch etwas Kraft dafür übrig.
Zwei Wochen vor den Ferien hatte Martin wieder einen großen Krampfanfall bekommen. Das erste mal, dass er beatmet werden musste. Todesnähe - die ewige Angst, irgendwann ist es soweit und er darf
nicht mehr bei uns bleiben, wir können ihm nicht mehr helfen.
Freundin Bettina übernimmt mutig Steffi - die sehr flink in allem sein kann -, in der Zeit, in der ich bei meinem Küken in der Klinik bin. Hoffend und wartend, dass Martin wieder aufwacht, alleine
atmen kann, nicht noch mehr zerstört wurde, in seinem schon vor seiner Geburt schwer geschädigten Gehirn.
Diese ewige Angst, die mich immer mehr blockiert, das Unverständnis so vieler Mitmenschen - es betrifft sie halt nicht selber, ist nicht ihr Problem.
Die überschwängliche Freude, dieses Mal noch nicht- mein Kind komt zurück ins Leben , Martins herzhaftes Lachen wieder zu hören. Seine wieder geöffneten, wunderschönen Augen zu sehen.
Gegen Abend, wenn es etwas abgekühlt hat, fahren wir oft nach Büsum raus, an das Meer.
Martin liebt es, mit seinem E-Rolli im Watt grenzenlos und weitflächig herum zu toben. Steffi sitzt gerne im Wasser, spielt mit den Wellen, matscht sich ein. Ein wenig störend sind nur die
zahlreichen Touris um diese Jahreszeit, ansonsten wäre es hier noch erholsam angenehmer.
Bevor wir wieder nach Hause fahren, müssen wir unbedingt noch Eis und Krabbenbrötchen essen an der Uferpromenade.
Zuerst das Eis, die Kiddis wollen unbedingt einen so genannten Eisneger haben. Das ist eine Waffeltüte mit Softeis und das ganze wird dann in flüssige Schokolade getunkt. Na gut, wenn es denn sein
muss, bitte.
Vor der Imbissbude steht eine weiße Kunststoffbank. Wir setzen uns vorsichtshalber lieber hin, um in dem Gedränge niemanden voll zu kleckern mit dem klebrigen Eis .
Ricky, der große Bruder gibt Martin das Eis mit einem kleinen Löffel, Steffi muss ihr Eis erst noch länger bewundern. Es beginnt schnell zu schmelzen bei der Hitze und beginnt langsam, die
Eiswaffel hinunter zu laufen.
Eine ältere, grauhaarige Frau nimmt neben Steffi Platz auf der Bank. Mit sehr kritischem Blick mustert sie mich, und spricht mich sehr unfreundlich an.
„Das ist das verkehrte Eis für ein Kind. Da gehört ein Becher dazu. Da sollte man als Mutter aber besser nachdenken. Na ja , nicht mehr belastbar die jungen Leute heutzutage.“
Ich merke, dass mein Gesicht rot anläuft und dass ich leicht wütend werde. Nur das fortgeschrittene Alter der Dame, hält mich davon ab, extrem unfreundlich zu werden.
Sie hatte überhaupt nicht registriert, dass meine Mäuse behindert, anders sind.
Sie wäre schließlich mit Vieren los gezogen, aber da, da hätte es so was nicht gegeben raunzte sie noch nach.
In mir brodelte es und dann mache ich auch endlich den Mund auf. Anfangs hatten mir die Texte der guten Frau nämlich glattweg die Sprache verschlagen.
„Wollen wir mal sehen, wer von uns beiden Hübschen belastbarer ist? Wollen sie mit meinen Kindern mal eine Runde hier durch die Fußgängerzone schieben und sehen, wie weit sie da mit ihrer
Belastbarkeit zu Fuß sind?“
„Außerdem , sie pauschalieren und haben keine Ahnung, was hier gerade geschieht.“
Steffi war doch so glücklich mit ihrem Eis, das sie ganz alleine, selber ausgesucht hatte, und es sieht doch wirklich interessant aus, wenn das Eis langsam die Eiswaffel hinunter läuft und man es im
letzten Moment, bevor es ganz verloren geht, mit dem Mund auffangen kann.
Martin kann aufgrund seiner gestörten Mundmotorik leider nicht immer alles im Mund behalten und kleckert halt dadurch.
Beide Kinder waren mit Tüchern versorgt, damit es nicht zu grausam aussieht für andere Besucher dieser kulinarischen Ebene, aber sie waren fröhlich und glücklich, und wenn es auch das falsche Eis
gewesen sein soll, es war anscheinend doch sehr lecker.
Erst nach meiner Ansprache sah die Dame sich meine Kinder etwas genauer an, nahm nun wohl wahr, dass sie nicht so ganz der Norm entsprechen. Wortlos verkrümelte sie sich dann von der Bank.
Gerade habe ich damit angefangen, auch für Menschen zu beten, die uns nicht wohlgesonnen sind. Aber, es fällt mir schon manchmal noch etwas schwer.
Heute hat Steffimaus ihren zehnten Geburtstag gefeiert in kleinem Rahmen, die große Party findet am Wochenende statt. Ihre Geschenke waren eine Fisher Price Küche und zwei Farbkästen, weil sie ja
schon immer so gerne malt und weil Sommer ist und wir einen Garten haben, dem es nicht so viel ausmacht, wenn mal was daneben geht.
Riesig hat das gute Kind sich gefreut und den ganzen Tag mit ihrer kleinen Freundin und Namensvetterin Stefanie mit der Spielzeugküche friedlich gespielt. Bloß, dass sie das Deckweiß aus den
Tuschkästen als Ketchup benutzt hat - na ja, ist ja ihr Geburtstag.
Und was das anbelangt, da jedenfalls bin ich noch tüchtig belastbar.