Maria - hat einen Engel

Dez. 2003

Es ist fast unvorstellbar dass es in der heutigen Zeit, hier mitten  in Deutschland möglich ist, einem Menschen das ganze, eigene Leben zu nehmen - aber es ist geschehen und geschieht noch immer.

Maria ist heute 68 Jahre alt. Als sie noch nicht ganz 10 Jahre alt war, kam sie als Pflegekind in eine Familie, die einen kleineren, landwirtschaftlichen Betrieb, in einem zierlichen, abgelegenen, idyllischen Örtchen in Schleswig Holstein, besaß.

Zu der damaligen Zeit wurden Pflegeeltern wohl noch nicht auf Herz und Nieren überprüft wie es heute der Fall ist. Damals war es wohl auch noch normal und legitim, dass Pflegekinder, oder geistig behinderte Menschen, als billige Arbeitskräfte gehalten wurden. Ein wehret den Anfängen, hatte hier gefehlt.

Maria war nicht das einzige Pflegekind in dieser Familie, aber sie ist das einzige, der Pflegekinder, dass nie wieder von diesem Ort weg kam.

Eine Freundin von mir wohnt in unmittelbarer Nähe zu der Hofstelle, die Marias ganzes Leben bestimmen sollte. Sie kennt Marias Leben, ihre Not, nicht selbstständig zu werden, sich nie durchsetzen zu können und nie ein erwachsenes Leben führen zu können. Und sie ist die einzige Person, der Maria vertraut und die dafür sorgt, dass Maria an Festen wie Geburtstag, Ostern, Nikolaus, Weihnachten nicht ganz leer ausgeht.

Die Kinder meiner Freundin, und ihr Freundeskreis schicken Maria kleine Päckchen, etwas Geld, damit Maria ihr einziges Eigenes, ein paar Kaninchen und zwei Hühner ernähren kann. Braucht Maria mal einen neuen Bock für ihre Zippen, dann organisiert meine Freundin auch dieses Tierchen. Einmal konnten wir Maria einen Hasenmann besorgen, zweimal ein Zwergkaninchen vermitteln, das andere  Familien los werden wollten, weil die Kinder kein Interesse mehr an den Tierchen hatten.

Für Maria sind die Kaninchen, der alte Hund des Hofes und die Katzen so was wie eine Ersatzfamilie. Sie schmust mit ihnen, redet mit ihnen und versorgt sie aufs Allerbeste.

Die Kühe sind Marias Arbeitsplatz, zu groß, um sie auf den Arm zu nehmen. Aber auch sie geben Maria Wärme.

Dann die geliebten Ansichtskarten von überall her. Von Überall, irgendwoher, aus der ganzen Welt, dort wo Maria nie selber hinkommen wird. Auch das organisiert meine Freundin. Die meisten Menschen, die Maria regelmäßig Karten schicken, kennt Maria nicht, aber es kommt zumindest ab und an Post für sie. Wenn Maria Glück hat, dann liest die Bäuerin Ihr die Karten vor. Maria kann es ja nicht selber, sie hat nie richtig lesen gelernt weil sie schon als Kind schwer arbeiten musste. Maria weiß auch, dass es der Bäuerin ein kleiner Dorn im Auge ist, dass Maria so versorgt wird von fremden Menschen, für Maria ist es eine kleine Genugtuung. Auch wenn ihr Geld zu Festivitäten geschickt wird - damit kann Maria alle kleinen Notwendigkeiten abdecken, und dieses Geld fordert die Bäuerin auch nicht von ihr ab.

 

Und niemand, der es nicht selber erlebt hat, kann sich vorstellen, wie Maria, eine erwaschsene Frau,  sich über ein Stofftier oder eine Puppe freuen kann. Oder, wenn sie meine Freundin bitten kann, ihr doch ein kleines Futternäpfchen und ein paar Dosen Katzenfutter mit zu bringen, für eines der Katzenjungen, das noch nicht so kräftig ist, wie seine Geschwister. Von dem geschenkten Geld kann Maria es dann selber bezahlen.

Die Hofstelle ist sehr herunter gekommen, im Laufe der Jahre, seit der Bauer verstorben ist, aber Marias Kämmerchen ist ein Spielzimmer, indem sie sich ihre kleine Welt einrichtet.

Maria hat nie lesen gelernt- wurde auch nie wirklich gefördert, aber sie arbeitet auf dem Hof, ihr ganzes, dortiges Leben lang bis heute, für Zwei. Ohne Freizeit, Urlaub und jegliche Entlohnung, von früh bis spät, jeden Tag, weil das Pensum  anders gar nicht zu bewältigen ist.

Früher für den alten Bauern und heute für dessen, nun auch schon sehr betagte Tochter war und ist Maria die dumme Magd.

18 Kühe müssen jeden Tag per Hand gemolken werden, Jungbullen werden aufgezogen .  Besorgungen, im nächsten Ort  macht die alte Bäuerin selber, alleine, mit einem alten, klapprigen VW Käfer. Sie fährt auch den alten Traktor noch , wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Kein Mensch kann sie überreden, die Landwirtschaft endlich auf zu geben. Dann hätte sie nichts zum Leben, entgegnet sie wohl immer. Meine Freundin weiß, dass das so nicht stimmen kann. Sie besitzt mehrere Immobilien, Erbschaften. Auf dem Hof hat sie Wohn und Nutzungsrecht, dann erbt den Hof die letzte, noch lebende, leibliche Tochter ihres Vaters aus erster Ehe, oder deren Nachkommen in Erbfolge.

Niemand versteht, warum diese Frau Maria und sich selber so quälen muss.

Heute ist Maria ein altes Weiblein, mit krummen Rücken- sie wurde in jungen Jahren von einer Kuh getreten und musste ohne medizinische Hilfe damit klar kommen - mit riesengroßen, abgearbeiteten , schwieligen Händen, wohl von der 87 jährigen Bäuerin, selbst geschnittenen, kurzen, fettigen Haaren.

Immer eine alte ,blaue, schmutzige Latzhose tragend, manchmal, wenn Maria meine Freundin besucht, zieht sie eine saubere Latzhose an, viel mehr an Bekleidung besitzt Maria nicht und wenn, hat meine Freundin ihr die Sachen geschenkt .Solche Geschenke würde Maria auch von niemandem ansonsten annehmen, sie schämt sich dafür, nichts zu haben.

Als Maria mir das erste Mal, bei einem Besuch bei meiner Freundin begegnete, sah ich in die wachen , grauen Augen eines hilflosen, großen, Kindes.

Ungefähr 158 cm groß, durch die frühere Rückenverletzung ganz nach vorne gebeugt, stand sie vor mir, einem fremden Menschen, von dem meine Freundin Maria aber immer wieder erzählt hatte.

Ich kann nicht beschreiben, was ich in diesem Moment empfand. Ich hätte dieses große Kind so gerne in die Arme genommen, aber ich wusste ja schon, sie hat es nie kennen gelernt, würde es nicht verstehen.

Meine Freundin hatte mir jahrelang immer wieder von Maria erzählt und wie unmöglich die Aussicht ist, Maria noch ein Stück menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Erst als die Bäuerin auf die Idee kam, Sozialhilfe für Maria zu beantragen, weil sie sie angeblich nicht mehr durchfüttern könne, wurde endlich von Amtswegen eine Betreuerin für Maria bestellt.

Die Betreuerin bringt nun jeden Monat persönlich die Sozialhilfe, in bar zu Maria auf den Hof, und Maria muss das Geld abgeben. Nicht mal ein Taschengeld wird ihr belassen von der alten Bäuerin.

Aber Maria will dort nicht weg. Sie hat Angst, woanders zu sein, weil sie nie etwas anderes kennen gelernt hat, als diese Hofstelle und zwei Kilometer Umland.

Die alte Bäuerin kann nicht mehr so viel arbeiten, wie früher- aber Maria muss es können. Nur heimlich, wenn sie sicher ist, sie wird nicht beobachtet, schleicht sie sich zu meiner Freundin, um ein paar Worte zu reden, mit einem anderen Menschen, von dem Maria weiß, dass sie dort so sein darf, wie sie ist. Eine Tasse Tee, ein Stück Schokolade, eine Keks, das ist für Maria ein reisengroßer Schatz.

Meine Freundin kauft das Tierfutter für Maria ein, das Maria dann wieder  mit dem geschenkten Geld bezahlt, Maria weiß nicht, dass meine Freundin für Maria Sonderpreise macht, damit die Geldgeschenke ja ausreichen und Maria nicht in eine , für sie peinliche Situation kommen kann. Es wäre ihr sehr unangenehm, könnte sie ihre kleinen Schulden nicht begleichen.

Marias Wünsche sind sehr bescheiden. Eigentlich verlangt sie für sich selber gar nichts, nur für ihre Tiere.

Die Betreuerin und meine Freundin haben sich gemeinsam eine Einrichtung angesehen, in der die Bewohner, die es noch können und wollen, mitarbeiten dürfen.

Gartenarbeit, Tierhaltung, auch ihre Kaninchen könnte Maria dort mit hinnehmen. Sie steht nun auf der Warteliste- für den Fall, dass die alte Bäuerin vor ihr gehen muss. Aber sie will nicht mit fahren, sich diese Einrichtung anzusehen, die die einzige, für Maria vernünftige Lebensmöglichkeit sein würde, für den Fall der Fälle.

Gespräche, die mit ihr diesbezüglich geführt wurden, ergaben, Maria will auf dem Hof bleiben, auch alleine und nirgendwo anders hin. Sie versteht nicht, dass sie nach dem eventuellen früheren Tod der Bäuerin, gar kein Recht mehr hat, dort weiter bleiben zu dürfen. Maria versteht auch nicht, was es bedeutet Hof und Tiere richtig, voll verantwortlich  zu unterhalten.

Kurz nachdem für Maria Hilfe zum Lebensunterhalt bewilligt wurde, und somit durch das Sozialamt eine Krankenversicherung bestand, bekam Maria eine Kälberflechte und sah schlimm aus. Meine Freundin fürchtete schon, dass Maria diese Krankheit  nicht überleben werde.

Nur sehr mühvoll konnte meine Freundin Maria überreden, sich von ihr zu einem Arzt im Nachbarort fahren zu lassen, damit ihr geholfen werden konnte. Auch die Bäuerin musste erst von der Notwendigkeit eines Arztbesuches von Maria überzeugt werden. Es ist nämlich nicht so, dass die alte Bäurin  meine Freundin akzeptiert. Für sie ist es Einmischung, aber würde sich meine Freundin nicht ab und an einmischen, sich um Maria bemühen, oder den Tierarzt rufen und auch selber bezahlen, ginge es vielen Lebewesen auf diesem Hof noch schlechter.

Maria kam auch nur ein einziges Mal mit in die Arztpraxis. Zu mehr ließ sie nicht überreden.

Nach dem Arztbesuch ließ Maria  sich ein einziges Mal in ihrem Leben überreden, mit zu Aldi zu kommen. Sie muss wohl total überwältigt gewesen sein von all dem Luxus auf einem Haufen. Sie erwarb eine Tüte Kekse, danach wollte sie auch dort nie wieder hin gehen.

Ich frage mich, wie viel selbstbestimmtes Leben hat Maria eigentlich überhaupt gelebt und wie wieviel davon wird sie noch leben können?

Bei einem Telefonat sagte meine Freundin zu mir, sie denke fast, Maria wird vor der Alten gehen.

Diese paar Zeilen über ein bedauernswertes Leben entsprechen zu 100% der Wahrheit. Maria hat auch in diesem Jahr von uns und vielen anderen Menschen wieder Weihnachtspost bekommen, meine Freundin aber ist für sie ein wahrer Engel, ohne den Marias Leben noch viel trauriger aussehen würde.

Wir alle müssen die Augen immer aufhalten und solche Menschen wie Maria erkennen, sie brauchen dringend einen Engel an ihrer Seite.

 

03.08.2006

Heute Nachmittag ist Maria im Alter von 69 Jahren verstorben. Es war ein schweres Gehen unter Schmerzen, trotz Morphin, wie mir meine Freundin berichtete.

Vor zwei Monaten wurde bei Maria inoperabler Magenkrebs festgestellt. Sie bekam eine Magensonde und wurde wieder nach Hause entlassen aus der Klinik. Es war ihr Wunsch, wieder in dieses „zu Hause„ zurück zu kehren. Sie hatte nie etwas Anderes kennen gelernt.

Versorgt wurde Maria von einem ambulanten Pflegedienst und meiner Freundin.

Noch vor zwei Wochen rief Maria bei uns an, sie wollte noch mal meine Stimme hören sagte sie mir und dass sie nun künstlich ernährt wird, aber noch ein bisschen laufen könne. Aber es wird nichts mehr werden mit ihr, sagte sie mir.

Am Dienstag wird die Beerdigung sein und auch von uns wird ein Gesteck auf ihrem Grab stehen und ich wünschte mir so sehr für Maria, dass sie noch ein paar Jahre ihres Lebens für sich genießen kann.

 

Es geht nicht, dass ich bleib,
mich ruft mein Stern.
Die Zeit ging schnell vorbei,
mein Ziel ist fern.
Vielleicht denkt ihr an mich,
wenn ich schon auf der Reise bin,
ich muss zurück- mich ruft mein Stern.

Wolfgang Eicke

 

 

In Liebe ein letzter Gruss

Brigitte, Jürgen und Kinder