Papas Schirm

Brigitte Betzel-Haarnagel, Juli 2004

Ich kann wirklich nicht behaupten, dass er immer noch so gut aussieht wie damals. Im Laufe der Jahre hat er doch ziemlich gelitten. Aber, er ist immer noch da, und inzwischen bei mir, wenn auch der Zahn der Zeit übel an ihm genagt hat.

Meist hängt er an einem Haken, an der Seite unseres Kiefernholz Schuhschranks im Flur, manchmal steckt er auch im spiraligen Schirmständer, der neben dem Schuhschrank steht. Zusammen mit unseren anderen Stockschirmen, die um einiges jünger sind wie er.

Das erste mal, als ich Papas Schirm bewusst wahrnahm, muss ich so um die fünf Jahre alt gewesen sein. Es war an einem warmen Sonntagvormittag im Frühling und Papa war das erste mal in meinem jungen Leben, mit mir gemeinsam, im Frankfurter Senkenberg Museum.

Ich war sehr beeindruckt von der beachtlichen Größe der Saurierskelette und dem riesigen Mammutmodell. Lange stand ich betroffen überlegend vor den Gläsern, in denen abgestorbene und missgebildete Föten für die Nachwelt erhalten waren. So sah ich wohl also auch aus, bevor ich das Licht dieser Welt erblickte.

Immer wieder deutete mein Papa mit seinem schwarzen Stockschirm hierhin und dorthin, um mir vieles zu erklären und genau darauf zu deuten.

Ohne seinen Schirm hätte Papa mir sehr viele Stellen und Gegenstände gar nicht so genau zeigen können, die Länge seiner Arme hätte nicht ausgereicht um überall heran zu kommen. Wir sind alle nicht so groß geraten in unserer Familie, ich dafür war schon immer etwas breiter, zum Ausgleich der fehlenden Höhe.

Eigentlich hatte Papa seinen Schirm mitgenommen, weil er dachte, es könne anfangen zu regnen. Papa meinte immer, es könne anfangen zu regnen, auch im heißesten, sonnigen Hochsommer. Sicherlich merkte er selber es gar nicht, was sein Schirm alles für uns war.

Wenn wir in den Frankfurter Stadtwald mit der Straßenbahn fuhren, oder an einem Bahndamm längs gingen, um leckere Brombeeren zu pflücken für die gute Brombeermarmelade mit etwas Zimt, Apfelsaft und Zitronenschale , so war es Papas Schirm, der uns davor beschützte, all zu arg von den Dornen der Brombeeren zerkratzt zu werden.

Der gute Schirm schob die dornigen Zweige der Brombeerbüsche zur Seite, damit wir unverletzt die herrlichen ,reifen Früchte pflücken konnten- oder- er holte uns mit seinem glänzenden, braunen Holzknauf die Zweige von ganz oben soweit herunter, dass wir auch diese gut erreichen und abernten konnten.

Eine Hilfe, um an einem kleinen Abhang oder Hügel hinauf zu kommen, war Paps Schirm auch. Hielt ich mich an seinem Holzknauf fest, konnte mein Papa mich problemlos hinauf ziehen mit seinem Schirm.

Nach getaner Ernte, legte Papa sich seinen Schirm über die rechte Schulter und mindestens eine unserer, mit Brombeeren gefüllten Milchkannen, wurde so von dem Schirm nach Hause befördert.

Oder bei der Obsternte in unserem Schrebergarten, damals im Westen Frankfurts, da war es der braune, glänzende Holzknauf von Papas Schirm, der uns die Zweige der Obstbäume soweit herunter zog, dass wir viele Kirschen, Äpfel und Birnen ernten konnten, ohne in den Baum hinaufsteigen zu müssen.

Heute gibt es dieses herrliche Stück Natur leider schon lange nicht mehr. Schon vor vielen Jahren wurden Mehrfamilienhäuser auf dem einst traumhaften Schrebergartengelände erbaut, dass wir so gerne und oft, immer mit Papas Schirm, besuchten.

Im Herbst, beim Kastaniensammeln in den Alleen und Parkanlagen Frankfurts, schob Papas Schirm die herunter gefallenen Blätter zur Seite und so konnten wir die Kastanien einfach aufsammeln, um später wundersame Wesen aus ihnen und ein paar Streichhölzern zu basteln. Ich liebe Kastanien und berühre sie auch noch heute sehr gerne. Kastanien sind eine Brücke zu mir selber, lange vor heute.

Als mein Sohn Ricky noch ein kleiner Junge war, machten wir mit meinen Eltern Ausflüge, natürlich immer zusammen mit Papas Schirm.

Im Frankfurter Palmengarten setzte sich eine kleine Blaumeise auf Papas Schirm und sah meinen Papa lange an. „Na Du“ sagte mein Papa zu der kleinen Blaumeise und ich war mir sicher, sie kannte meinen Papa und seinen Schirm sehr gut.

Ich liebte diesen Schirm und ich liebe ihn noch heute. Auch wenn er nicht mehr zum Schutz gegen Regen verwendbar ist, weil einige der Speichen gebrochen sind und sein schwarzer Stoff an vielen Stellen zerrissen ist, so hilft er mir doch immer noch regelmäßig.

Beim Auf und Zuziehen der Vorhänge komme ich mit Papas Schirm bis gut bis oben an die Gardinenstange hinauf und kann so ganz leicht, mit Papas Schirm, die Gardinen bewegen.

Spinnweben entferne ich auch mit Papas Schirm und ich komme so wirklich in jeden Winkel unsere Decken.

Ist den Kindern oder unseren Hunden etwas unter Schrank oder Sofa gerollt, mit Papas Schirm bekomme ich es immer wieder hervor, auch wenn mein Rücken heute nicht mehr so recht kann.

Der schnellwüchsige Knöterich im Vorgarten und hinten, im Gärtle, am Wäschetrockenplatz, wird durch den Knauf von Papas Schirm gebändigt und in seine Schranken gewiesen.

Lange Jahre lebte ich ohne Papa und ohne seinen Schirm. Jeder ging seine eigenen Wege, wie das eben normalerweise so ist im Leben. Manchmal sind es traurige Umstände, die die Lebenswege trennen. Bei uns war es der frühe Tod meiner Mutter und die neue Lebensgefährtin meines Papas. Es war kein Raum mehr in dieser Welt für mich. Nicht, dass ich nicht oft große Sehnsucht gehabt hätte nach meinem Papa, aber es waren viele Jahre nur jeden Samstag ein Telefonat und ab und an ein ganz kurzer Besuch bei Ihm.

Einen Monat, nachdem mein Papa verstorben war, räumten wir im Hause seiner Lebensgefährtin, mit der er 20 Jahre nach dem Tod meiner Mutter zusammen war, seine beweglichen Sachen zusammen und ich nahm so Einiges mit, weil ich mich einfach noch nicht von meinem Vater trennen konnte. Wenigstens jetzt wollte ich, das was noch übrig war von seinem Leben, für eine zeitlang bei mir verwahren. Ich wollte alles anfassen und wieder Papas kleines Mädchen sein, mich zurückdenken in die früheren, noch unbeschwerten Augenblicke.

Wie sehr freute ich mich, als ich diesen wunderbaren alten, Schirm nun wieder sah. Irgendwie war es, als sei mein Vater plötzlich neben mir und wir erlebten noch einmal alles Schöne zusammen.

Sein früher Tod, er war gerade erst 76 Jahre alt, war für mich unfassbar. Gerade hatte ich geplant, da wir aus beruflichen Gründen meines Mannes umziehen mussten und nur noch 300km zu meinem Papa hätten fahren müssen, ihn einfach immer wieder zu besuchen, solange, bis ich vielleicht meinen Platz, den Platz seiner Tochter wieder zurück bekommen hätte.

Ich wollte alles haben, was von ihm noch da war, um mich mit unserem Leben, unserer Beziehung auseinander setzen zu können. Worte wollte ich aussprechen, die ich ihm nicht sagen konnte, Fragen wollte ich stellen, selbst auf die Gefahr hin, dass ich selber die Antwort gar nicht finden kann oder, die Antwort erkennen, die ich vielleicht schon lange, verborgen in mir, selber weiß.

Nun rede ich mit Papas Schirm und lasse mir so oft von ihm helfen.

Im Keller hängt der Mantel, in dem mein Papa verstorben ist. Beim Einkaufen, auf der Strasse, neben seiner Lebensgefährtin, mitten aus dem Leben ist er gegangen, eine Woche nach Silvester.

Beim Todessturz auf die Gehwegplatten des Bürgersteiges, verletzte Papa sich die Stirn. Etwas seines Blutes ist noch vertrocknet auf dem Fellkragen seines Wildledermantels. Für mich ist es ein kleines Stück seiner lebendigen Seele, das bei mir geblieben ist.

Zum Abschied nehmen war keine Zeit mehr, es kam zu plötzlich, dieses Gehen Müssen. Wahrscheinlich hätte alle Zeit der Welt nicht ausgereicht, um den Abschied zu vollziehen.

Wie gerne hätte ich meinen Papa in seinem Gehen begleitet, wie gerne hätte ich seine Hand gehalten, seinen letzten Atem spürend. Mit der Gewissheit, dass er spürt, auch ich bin an seiner Seite. War ich es doch immer in meinen Gedanken und Gebeten.

Heute begegnen wir uns oft im Traum. Unsere Gespräche haben kaum etwas mit unserem gemeinsamen Leben zu tun, aber wir sind wieder einen kleinen Moment für einander da. Manchmal, nur ganz kurz.

Oft berühre ich Papas Schirm und Papas Mantel, dann kann ich manchmal seine Hand noch spüren, und manchmal auch ist es ein bisschen warm.

 

 

12 Jahre sind vergangen

 

Inzwischen sind zwölf Jahre vergangen. Papas Schirm hilft mir immer noch, vor allem auch gerade jetzt, da es mir gesundheitlich nicht mehr so prickelnd geht brauche ich ihn weiterhin als helfendes Werkzeug, so wie mein Vater ihn früher benutzt hatte.

Da eine Grabstelle für mich nie wichtig war und viel zu weit entfernt , um einfach so einen Besuch zu machen, habe ich das Grab meines Vaters im letzten Jahr abräumen lassen. So wie ich mich an Aussagen meines Vaters von früher erinnere, hätte er mir sein Okay gegeben, da war ich mir sicher.

Meine Trauer – die es immer noch gibt, und meine Zwiesprache mit meinem Vater finden ganz direkt hier bei mir und in mir statt. Schirm und Mantel werden bei mir sein, solange ich lebe. Sie geben mir irgendwie Sicherheit und lassen das Band zu meinem Vater und meiner Kindheit nicht abreißen.

In den vergangenen zwölf Jahren konnte ich lernen, vieles zu verstehen und zu erkennen. Das Leben meines Vaters konnte ich mir genauer anschauen und heute weiß ich, warum er so war, wie er war.

Aufgewachsen in einem strengen, manchmal distanzierten Elternhaus, als Kind/Jugendlicher im dritten Reich missbraucht als Kanonenfutter, waren viele seiner Gefühle sicher vergraben.

Das heißt, ich habe meinen Vater in den letzten Jahren teilweise ganz neu kennen gelernt und konnte so auch teilweise meinen Frieden finden mit Verletzungen die es in meinem Leben gab.

Im Traum ist mir mein Vater oft begegnet, begegnet mir immer noch und nie grundlos.

Er hat mir oft helfen können und mich auch richtig vorbereitet auf den kommenden Tod von Menschen in meinem Umfeld. Verstanden habe ich diese Träume anfangs immer dann, wenn die Situationen direkt eintrafen, heute schaue ich genauer hin und kann die Verbindungen erkennen zu dem was kommt.

Manchmal berühre ich Schirm und Mantel und sage „ Hallo Papa“ und dann fühlt es sich oft so an, als berühre Jemand meine Hand.