Tante Martha

Brigitte Betzel-Haarnagel, 1992

Vor ca. 1 ½ Jahren ist mir diese alte, lustig, gemütlich  wirkende Frau das erste Mal im Supermarkt begegnet.
 
So zwischen 70 und 80 Jahren wird sie in etwa alt sein, schlecht zu schätzen alles in allem.
 
Unglaublich liebe Augen schauten mich an. Unter einem bunt gemusterten Kopftuch kamen ein paar graue Locken zum Vorschein und noch heute trägt sie, ein jedes Mal, wenn wir uns zufällig begegnen, einen sehr alten, wohl ursprünglich mal beige gewesenen, heute mit schmuddelig wirkender Patina eingefärbten Übergangsmantel und ein betagtes, schwarzes, kleines Lederhandtäschle.
 
„Hallo, meine Süße„ sprach sie mich an, als sie bemerkte, dass ich ansah, streichelte mein Gesicht und berührte zärtlich meine Stirn mit der Ihren. So, als seien wir gute, alte Freunde oder familiär verbunden. Sie strahlte Liebe aus in einem Maße, wie ich sie vorher noch nie von einem Menschen so intensiv und spontan empfunden habe.
 
„Ich hab ja kein Geld, ich gucke hier so rum und ein Bonbon darf ich versuchte sie ihre Anwesenheit in diesem Geschäft vor mir zu rechtfertigen.
 
Sie streichelte Steffi und Martin ganz liebevoll, hielt meinen Begleiter am Arm fest und sagte ihm, er solle Mutti grüßen.
 
Dabei kannte keiner von uns Tante Martha, die so vertrauensselig mit uns umging.
 
Mit fast jedem Menschen, der ihr über den Weg lief im Supermarkt, sprach sie und immer versuchte sie, die Menschen auf eine unbeschreiblich zärtliche Art und Weise zu berühren.
 
So ca. einmal pro Woche traf ich über einen langen Zeitraum Tante Martha in diesem Supermarkt. Die Kinder winkten ihr schon von weitem zu und es ist gerade so, als ob wir uns schon lange und sehr gut kennen.
 
Ein jedes Mal erzählte sie uns etwas mehr über sich, über ihr Leben.
 
Sie bekäme ja Rente, aber da würden die Erben schon aufpassen, dass sie da nicht ran käme.
 
Ich fragte Tante Martha, ob sie sich denn nicht ein wenig Taschengeld nehmen könne. Sie begann meinen Arm zu streicheln und lies mich wissen, dass sie doch keine Ärger mit den Erben haben will.
 
Obwohl ich wusste, zu welchen unkontrollierten Geldausgaben Menschen, die dement oder manisch sind, in der Lage sein können, tat mir Tante Martha doch ein wenig leid.
 
Einen Anspruch auf Taschengeld hatte sie doch bestimmt, sie wirkt ganz bestimmt nicht unangenehm oder überzogen, halt alt, aber sehr, sehr lieb.
 
Keiner weis, was an Alterskrankheiten einmal auf ihn zu kommt, trotzdem haben Menschen  auch dann noch Rechte.
 
Gestern war wieder mal so ein Tantemarthaichtreffdichtag und wieder freuten wir alle uns darüber, dass wir Tante Martha trafen.
 
Ich bekam mit, wie Tante Martha einem ausländischen Mitbürger, der sicher kaum etwas von dem verstand, was Tante Martha  ihm zu erzählen versuchte, und der sehr damit beschäftigt war ihren zärtlichen Berührungen aus zu weichen, erzählte, dass, als ihr Mann noch gelebt hätte und sie gemeinsam einkaufen gingen, sie sich immer Eukalyptusbonbons gekauft hätte. Darauf hätte sie sich immer so sehr gefreut.
 
Das sollte ja nun kein Problem sein, dachte ich, nahm Tante Martha an die Hand und ging mit ihr zur Süßwarentheke.
 
Ich nahm eine Tüte Eukalyptusbonbons in die Hand und fragte Tante Martha, ob das hier die richtigen Bonbons seien.
 
Ja, genau, die hätte sie immer gekauft, sagte sie mir erfreut.
 
Zwar kam ich mir etwas merkwürdig vor, aber ich fragte Tante Martha, ob sie gerne eine Tüte davon haben möchte. Sie nickte strahlend und ließ sich von mir die Bonbontüte in die Hand drücken. Ich gab ihr das Geld dafür und schickte sie zur Kasse, zum bezahlen, damit sie nicht eines Diebstahls bezichtig wird.
 
Sie freute sich so wie meine Kinder über ein Eis und sagte: „Oh, bist Du aber lieb zu Tante Martha.“
 
Ich beobachtete, wie sie zur Kasse ging und bezahlte. Die Kassiererin schaute Tante Martha schon etwas komisch an, sagte aber nichts zu ihr.
 
Danach lief Tante Martha im Supermarkt herum, und verschenkte großzügig und glücklich, mal hier und mal da, ein Eukalyptusbonbon.
 
Eine Frau, die das mitbekam meinte lautstark: „Na, die hat sie doch bestimmt nicht bezahlt.“
 
Das konnte ich aber klären und dann versuchte ich der Kundin zu erklären, dass Tante Martha doch niemanden Schaden zufügt und eine ganz liebe Seele ist, und dass auch sie nicht weiß, wie sie in paar Jahren davor sein wird.
 
„Naja, eigentlich haben sie ja recht“, bekam ich zur Antwort.
 
Inzwischen habe ich natürlich über Tante Martha eine ganze Menge erfahren.
 
Vor einigen Jahren wurde bei ihr Alzheimer diagnostiziert. Um zu vermeiden, dass Tante Martha ihr Geld, großzügig, wie sie nun mal ist, einfach so  verplempert, hat ihr Sohn, bei dem sie lebt, ihr kurzerhand den Zugang zu ihrem Konto gesperrt.
 
Sie bekommt ein sehr kleines Taschengeld, das wirklich nicht weit reicht, weil sie doch so gerne nascht.
 
Ob das so okay ist, weiß ich nicht. Sicherlich wäre ich etwas großzügiger mit dieser lieben Menschenseele umgegangen.
 
Irgendwann war Tante Martha dann nicht mehr zu sehen. Ihr liebes Wesen fehlte mir sehr und in Gedanken wünschte ich ihr so sehr, dass ihre Liebe erwidert wird und dass sie die Liebe bekommt, die sie braucht, dass ihre letzten Lebenstage noch Qualität für sie haben werden und vor allem, dass sie nie leiden muss.