Und Tommy kommt nicht mehr

Brigitte Betzel (1/98)

Tommy ist ein von uns sehr lieb gewonnenes Nachbarkind, inzwischen 10 Jahre alt. Ein netter, einfühlsamer Zeitgenosse und Tommy ist seit seinem zweiten Lebensjahr Steffis (12 Jahre, Down Syndrom) bester, über alles geliebter Kumpel gewesen.
 
Fast täglich kam Tommy über den Gartenzaun geklettert, der unsere Gründstücke von einander trennt, um mit Steffi und auch mit Martin, (11 Jahre, mehrfach behindert) zu spielen und zu toben, zu schmusen und zu essen. An manchen Tagen musste seine Mutter am Abend bei uns nachfragen, ob ihr Küken nicht mal wieder so langsam nach Hause kommen möchte.
 
Egal wie grau der Himmel für Steffi war, betrat Tommy unser Grundstück schien schlagartig für Steffi  wieder die Sonne.
 
Wenn sie auf mich nicht hören wollte, alles Gesagte und Gefragte störrisch ignorierte - Tommy musste die gleichen Worte nur hauchen und Steffi tat es sofort.
 
Ging Tommy wieder nach Hause oder fuhr seine Familie weg mit ihm , weinte Steffi bitterlich hinter ihrem geliebten Freund her.
 
Alles änderte sich schlagartig, als Tommy zur Schule kam. Er fand neue, gleichentwickelte Freunde, seine Interessen gingen in normale, altersbedingte Richtungen und er verbrachte immer weniger Zeit bei uns. Seine Freunde können mit Steffi und Martin nichts anfangen. Sie gehen uns aus dem Weg.
 
Tommy mag Steffi immer noch sehr gerne, er achtet sie, versteht sie, aber er geht nun  seinen eigenen Weg - ohne sie.
 
Vielleicht alle zwei Wochen, für eine viertel Stunde kommt er noch zu uns rüber , in ganz seltenen Fällen auch mal etwas länger. Jedes Mal aufs Neue weint Steffi zum steinerweichen wenn Tommy wieder geht.
 
 
 
Die anderen Kinder warfen schon das Handtuch, als die Kindergartenzeit begann, sie haben uns weitestgehend vergessen.
 
Treffen wir uns zufällig auf der Straße, freuen sich zwar alle und ich bekomme erzählt, was sie jetzt schon alles können und dass sie viele Freunde haben, zum Spielen kommt leider niemand mehr einfach so vorbei.
 
Im November 97 hat Tommy eine süße, kleine Schwester bekommen. Ich freue mich schon jetzt auf die Zeit, wenn Tasia über den Zaun klettern wird.
 
Auch mir fehlt Tommy im täglichen Allerlei. Sein herzhaftes Lachen, sein auf die Bäume klettern, sein mit Steffi im Planschbecken und auf der Hüpfburg und dem Trampolin toben, einfach sein da sein in unserer Welt.
 
Steffi kann es nicht verstehen. Sie hat ihn lieb, möchte mit Tommy immer zusammen sein.
 
Martin versteht diese Entwicklung schon eher, für ihn ist es nicht so schlimm. Sein Schulfreund heißt Bob, der in einem Nachbardorf wohnt. Bob ist schon so verkehrssicher, dass er alleine mit dem Fahrrad zu uns kommen darf, wann immer er es will.
 
Außerdem ist Martin Steffi intellektuell weit überlegen, hat seine eigenen Interessen, kann sich anders mitteilen und beschäftigen.

Steffis Schulkollegen wohnen, durch den großflächigen Einzugsbereich der Sonderschule, viel zu weit weg entfernt für solch spontane, eigentlich normale, Treffen. Alles muss immer genauestens geplant und abgesprochen werden und es ist immer Fahrerei verbunden.
 
Steffi schließt sich nicht sehr schnell an jemanden an, dafür aber um so dauerhafter und liebevoller.
 
Für Tommy wurde es einfach Zeit, sich von seinem Umfeld nach außerhalb zu orientieren, weg vom Nest der Familie, in ein eigenes Leben, mit eigener Verantwortung. Steffis Zeit bleibt stehen, sämtliche, mögliche Entwicklungsschritte brauchen lange Zeitspannen. In vielen Bereichen ist Steffi noch keine drei Jahre alt.
 
Wir müssen lernen, mit dem Überholtwerden zu leben und dass es sehr wehtun kann.
 
Ich bin sehr dankbar für jede Minute, die Tommy mit uns verbracht hat, für jedes Mal, mit dem er, mit was auch immer uns alle zum Lachen gebracht hat.

 

Alles Gute für Dich und Dein Leben Tommy. Wir lieben Dich.