Schneewittchen ist gestorben

Brigitte Betzel-Haarnagel, Winter 1987

Es ist ein Freitagabend, kalt, kühl, nebelig, finster und wenn man vor die Tür hier im Moor geht, ist es fast schon unheimlich .Jedes Geräusch hallt in der Dunkelheit, obwohl ansonsten eine Grabesstille herrscht.

 

Ich gehe mit Steffi in den Stall hinter der Waschküche um unsere weiße gehörnte Schmuseziege Olli zu füttern und zu melken.

 

Auf dem Melkstand sitzend schaue ich in seine Ecke. Er liegt auf der Seite, mit starrem Körper  und flach atmend.

 

Angst, ich spüre richtige Angst in mir, die mir den Magen zu schnürt. Jeden Schlag meines Herzens höre ich. Das Melken und Olli vergessend knie ich mich zu ihm nieder. Er schaut mich an mit seinen wunderschönen, großen, braunen Augen die mich immer so ansahen, als verstünde er jedes meiner Worte, als könne er meine Gefühle spüren. Keine Bewegung ist mehr in ihm .Kein Betteln um Futter, kein freudiges Umherspringen. Das weiße Meerschweinchen, seine Freundin,  sitzt ganz eng an ihn gekuschelt, als wolle es ihm Wärme geben, die er selber nicht mehr hat.

 

Ich fange an zu weinen um meine Ohnmacht gegen die Natur. Ich will noch nicht, dass er schon geht, er gehört doch hierher, gehört doch zu uns.

 

Vor mehr als sechs Jahren hatte ein Freund mir Schneewittchen geschenkt. Es wäre ein kleines Hasenmädchen, diese Handvoll Fell mit langen Öhrchen. Aus diesem Baby wurde ein stattlicher Hasenmann. Sehr zahm und zutraulich. Er spazierte frei in Garten und Hof, ohne das Grundstück jemals zu verlassen. Immer wieder kam er durch das Loch im Zaun in den Stall zurück, wenn er genug hatte von seinen Spaziergängen im Garten. Hier bei uns war sein Bau, sein Zuhause.

Er war da, jeden Tag. Immer wenn ich in den Stall kam begrüßte er mich mit einem Hasenluftsprung. Oft besuchte er uns auch, wenn wir im Vorgarten saßen oder er stand auf seinen Hinterläufen vor der Glasscheibe der Haustür um so bescheid zu sagen, dass er die Gesellschaft seiner Menschen möchte. Es war eine ganz besondere Art zu Verstehen und dieser Hase hatte einen Platz in meinem Herzen, sechs lange Jahre war er ein lieber Freund von uns Menschen und den Tieren, die hier mit uns leben durften.

 

Nun war so plötzlich für ihn die Zeit gekommen zu gehen, in ein neues Leben oder den Hasenhimmel. In diesem Moment wollte und konnte ich es nicht akzeptieren. Ich wollte ihn bei mir behalten, ihn noch länger lieb haben. Zorn kam in mir auf gegen die Macht der Natur.

 

Steffi, (Down Syndrom) damals 1 1/2 Jahre alt wollte Schneewittchen streicheln, ihn trösten. Dass es ihm nicht gut ging hatte auch sie sofort gespürt. Vorsichtig nahm ich unseren Freund auf den Arm. So gingen wir mit unserem Liebling ins Wohnzimmer. Ganz behutsam und vorsichtig trug ich Schneewittchen auf meinen Armen, während meine Tränen auf sein schwarz-weißes Fell kullerten.
Sanft legte ich ihn auf das Sofa, auf seine Decke, und streichelte sein liebes Hasengesicht .Immer noch nicht wollte ich wirklich wahr haben, was hier nun geschehen sollte, obwohl es so offensichtlich war.

 

Kater Mucki sprang zu uns aufs Sofa und wollte, wie schon so oft, mit seinem Hasenfreund spielen. Vor zwei Wochen erst hatte Schneewittchen Kater Mucki, der in unserem Garten von einem Nachbarkater bedroht wurde, verteidigt. Der Hase rannte, immer wieder mit den Hinterläufen klopfend auf den fremden Kater zu. Dabei gab er gefährlich klingende Stöhnlaute von sich, was den fremden Kater wohl so entsetzte und beängstigte, dass er eiligst zusah, unseren Garten zu verlassen. Und nun sollte auch diese Freundschaft ein Ende haben.

Eine halbe Stunde hat es dann noch gedauert. Ein letzter Blick, ein Aufbäumen- Schneewittchens Herz hatte aufgehört zu schlagen.

 

Als Steffi mich weinen hörte, kam sie angelaufen und wollte unserem Schmusehasen eine kleine Püppi bringen. Sie wusste, dass er gerne Spielzeug mit seinem Mäulchen durch die Gegend warf und das sah immer so lustig aus.

Der Abschied tat so weh. Abschied tut immer weh, wenn ein liebes Wesen geht und ich vermeide es immer Abschied zu nehmen, weil ich den Schmerz nicht spüren will. Mein lieber Hase hat mir keine Chance gelassen.

 

Schneewittchen zeigte mir, das Abschied nehmen zum Leben gehört, auch zu meinem Leben und auch, wenn ich es gar nicht will.

 

Dieser schwarz weiße Mümmelmann war ein wunderbares Geschenk. Sechs Jahre lang eine ungewöhnliche Freundschaft und ein wunderschöne Erinnerung, die ein ganzes Leben bleibt.

 

Und er war es selber, der diese Freundschaften geschlossen hatte. Er kam auf uns zu und auf die anderen, tierischen Freunde. Einfach so, hier bin ich nun mag mich bitte.

 

Ich trauerte lange um einen Hasen, der mir soviel bedeutete und wurde mitleidig belächelt von einigen Bekannten. Es sei doch kein Mensch und man solle nicht um Tiere trauern, wurde mir immer wieder gesagt.

 

Aber wenn ich dieses Tier doch geliebt habe und wir so lange mit einander leben durften, wenn mir dieses Tier ein so lieber, zärtlicher und fröhlicher Lebensgefährte war, dann hat doch ein Tier ein Recht auf meine Trauer und meine Gefühle, meine ureigenen, inneren , ganz ehrlichen Gefühle.

 

Ich muss doch Abschied nehmen können von einem Freund, in meiner Trauer.

 

Und irgendwie denke ich oft, dass Tiere die besseren Menschen wären.