Tweetie - aus dem Nest gefallen
Eine Frühlingsgeschichte
Brigitte Betzel-Haarnagel, 1982
„Brigitte, guck mal was ich hier habe", rief Marko ein Pflegekind für zwei Jahre (7 Jahre, Muskeldystrophie) ganz aufgeregt als er in einem Affentempo zu mir in den Gemüsegarten gestolpert kam.
Ich war mit dem leidigen, und doch immer wieder notwendigen Unkrautjäten beschäftigt und meine Gedanken befassten sich mit der Planung des Speiseplanes für die nächste Woche. So war ich ganz froh,
dass die Kinder in der Nachbarschaft spielten und somit hier eine wunderbare, momentane Ruhe herrschte.
"Hab ich ganz alleine gefunden und aufgehoben, als die große Katze angerannt kam." Erst dachte ich Marko hätte mal wieder eine tote Maus gefunden und wollte verhindern, dass die Katze ihre Beute
auffrisst und wir die Maus nun feierlich bestatten müssen.
Schon wollte ich sagen: "Schmeiß es bitte auf den Komposthaufen und wasch Dir die Hände richtig", als Marko mir seine, zu einer Kugel geformten Hände, vor die Nase hielt und mich hineinsehen
ließ.
Darinnen saß mit ängstlichen, noch gar nicht so recht geöffneten Augen, ein noch fast nacktes, winzig kleines Drosselbaby. Es sah so erbärmlich elend aus. Halbfertig, nur ein paar Federkiele mit
Flaumansatz und hellrosafarbene Haut waren zu sehen.
Aber - es lebte‚ war warm und schien sich bei seinem unerklärlichen Sturz, wohl aus dem Nest in Nachbars uraltem Birnbaum, oder der so wunderschönen, alten Rotbuche nicht verletzt zu haben.
Es war nicht zu erkennen ob die Drosselvogeleltern es aus dem Nest geworfen hatten, weil es vielleicht krank war und die Vogeleltern ihre restliche Brut schützen mussten, oder ob eine Elster Geflügel
frühstücken wollte und sich ungeschickt anstellte. Alleine rausgefallen war es sicherlich nicht aus dem schützenden Nest, es konnte sich ja kaum erheben, so klein und schwach war dieses kleine
Drosselbaby noch.
Marko war wild entschlossen, dieses Vogelbaby zu beschützen bis es groß genug sein würde, um alleine zu leben. Wir alle sollten jetzt die Eltern und Familienersatz für das hilflose Wesen sein
und so setzte Marko diesen Winzling vertrauensvoll in meine mütterlichen Hände.
Auweia, dachte ich in Anbetracht des doch sehr jugendlichen Alters dieses Frühlingsgeschöpfes und hatte so meine berechtigten Bedenken, ob es überhaupt bei aller Tierliebe möglich sein könnte, dies
zu schaffen.
Wahnsinnig gefreut hatte mich Markos Reaktion. Er ging nicht achtlos und gleichgültig an einer hilflosen Kreatur vorbei. Er nahm sie wahr und hatte Mitgefühl obwohl er ansonsten ein beispielloses
Rauhbein sein konnte und uns so manche üblen Streiche spielte. Hier jedenfalls konnte ich einen kleinen Heiligenschein über seinem kleinen Dickköpfle aufleuchten sehen und schon diese Tatsache
alleine war es mir einen Versuch wert.
Bloß, wie würde mein Pflegesohn es hin nehmen, wenn der kleine Piepmatz nun doch nicht am Leben bleiben konnte- was mir sehr wahrscheinlich erschien im Moment. Diese Erfahrung mussten wir dann
wohl alle machen, auch wenn sie sehr weh tun würde.
Ab und an hatten wir Hühnerküken aufgezogen, aber das waren Nestflüchter. lmmerhin waren wir im Besitz einer funktionierenden Wärmelampe, die hier sicher auch hilfreich sein konnte.
Ein alter, unbewohnter Mäusekäfig den wir im Schuppen aufbewahrten für irgendwelche unvorhergesehenen Notfälle ‚wurde nun mit Heu und Hühnerfedern nestmäßig ausgepolstert und im Abstand von ca. einem
Meter unter besagter Wärmelampe, die wir in der Waschküche aufhängten, platziert, mit der Hoffnung- möge die Übung gelingen
Tweetie, so taufte Marko sein Findelkind, lebte von nun an erst mal in seinem provisorischen Mäusekäfigwärmebettchen und der hintere Teil unsere Waschküche war die Drosselbaby lntensivstation. Nur
dass die Wärmelampe rotes Licht ausstrahlte und kein Blaues.
Nun begannen Probleme, die uns schon sehr beschäftigten. Was bitteschön sollte dieses verloren gegangene Piepmatzbaby denn an Speis und Trank zu sich nehmen und vor allem, wie?
Die richtigen Drosseleltern verdauen doch für eine gewisse Zeit die Lebendnahrung vor und wer sollte diese ehrenvolle Aufgabe hier ‚in einem Menschenhaushalt übernehmen? Schon alleine die Tatsache, dass von nun an Würmer ausgebuddelt werden mussten und Fliegen gefangen werden sollten und ähnliches, eiweißhaltiges Getier stellte schon ganz schöne Ansprüche an uns Ahnungslose. Alleine der Gedanke daran ließ, obwohl ich ansonsten gar nicht so zimperlich bin, in meiner Magengegend ein merkwürdig flaues Gefühl entstehen.
Aber das Alles klappte irgendwie. Ab sofort war mehrmals tägliches Würmerausbuddeln angesagt und die gefundenen Würmer konnten schon richtig stolz darauf sein, dass ihr Anblick so viele Hurrarufe
verursachte. Die Würmer waren ab sofort also Erfolgserlebnisse.
Ein alter Mixeraufsatz zerkleinerte nun Würmchen, Rinderhack, Ei, Honig, Reste von Babyfertigbrei, die Baby von ihren Mahlzeiten übrig ließ und wenn wir nicht allzu fündig wurden auch noch
Katzenfutter. Geradeso in der Konsistenz, dass ich die Breinahrung in eine alte Salbenspritze aufziehen konnte, denn nur mit einem spitzen Gegenstand war es überhaupt möglich, Tweetie seinen
Vogelbabybrei tief genug in seinen winzigen Schlund zu befördern und so gut es ging, dem Fütterverhalten der richtigen Drosseleltern anzupassen, soweit dieses überhaupt möglich war , ohne großartig
ornithologische Kenntnisse und einen spitzen Schnabel zu haben.
Drei Wochen lang wurde Tweetie nun so von uns ‚meistens von mir, wegen der Muttergefühle, ernährt -und- das Vogelbaby hat es bestens, zu meinem großen Erstaunen, überlebt. So gut es ging wurde es in
der Zeit zwischen 6 00 Uhr früh und 22 00 Uhr Nachts im 30 Minutentakt gefüttert.
Spürte Tweetie die futterbringende Hand näher kommen, streckte es seinen zierlichen, so zerbrechlich wirkenden Vogelbabykörper nach oben und öffnete bettelnd sein winziges Schnäbelchen.
Nie hätte ich mir träumen lassen, jemals zu einem Vogelbaby eine so intensive Beziehung aufbauen zu können und Gefühle der Liebe für es empfinden zu können. Aber es war tatsächlich so und es
passierte so schnell, dass es ich kaum bemerkte. Plötzlich waren diese Gefühle da. Auch mit anderen Tieren musste ich es schon genauso erleben.
Für die Kinder war die ganze Drosselrettungsaktion ein einziges Abenteuer und ich war sehr glücklich, dass unser gefiedertes Nesthäkchen sich so gut entwickelte.
Hatten wir nun etwas vor, mussten wir entweder einen Vogelsitter zum regelmäßigen Weiterfüttern finden -und das war relativ selten machbar, oder wir nahmen den Mäusevogelkäfig samt lnhalt und
Futterutensilien überall mit hin. Logischer Weise fielen wir so doch einigen Leuten merkwürdig auf ,Bemerkungen von "oh wie süß" bis "ihr seid ja nicht ganz gescheit" bekamen wir recht oft zu hören
,aber das war uns nun wirklich völlig egal.
Tweetie wurde größer, bekam ein flauschiges Federkleid und war mit Sicherheit der einzige Drosselvogel, der Menschenpflegeeltern hatte und noch nie einen Vogel gesehen hatte in seinem Leben. Je
kräftiger Tweetie wurde, um so grober ließ ich sein Futter werden. lrgendwann war es dann soweit, unser Piepmatz konnte ganz alleine fressen und trinken. Doch noch immer streckte es sein Köpfchen in
die Höhe ‚öffnete sein Schnäbelchen wenn wir nur in seine Nähe kamen.
Inzwischen zog Tweetie in einen richtigen, großen Vogelkäfig mit Sitzstange um. Sehr oft wurde Tweetie von uns allen in die Hand genommen, es wurde geschmust und erzählt mit ihm und spärliche
Versuche ihm etwas vorzuträllern wurden auch unternommen. Dann kam die Zeit, zu der wohl die Vogeleltern ihrem Sprössling beigebracht hätten, was ein Vogel denn so alles Feines mit seinen Flügelchen
machen kann. Und da hatten wir auch schon wieder ein Problem. lrgendwo mal raus oder hingeflogen waren wir schon alle mal, aber um Vogelbaby praktische Flugstunden zu geben, da fehlte uns doch die
persönliche Erfahrung und diverse Körperteile.
So setzten wir Tweetie auf eine Wäscheleine im Garten und warteten einfach ab was passierte. Am dritten Tag wurde es unserem Vögelchen wohl zu langweilig und es flog - ja es flog richtig - erst einmal auf den Rasen unter der Wäscheleine. lch nahm es dann in die Hand und warf es mit vielen guten Wünschen so hoch ich nur konnte in die Luft. Tatsächlich, Tweetie öffnete seine Flügel und zog seine ersten Runden, vorsichtig, immer Blickkontakt zu uns haltend. Wie froh waren wir, dass hier die natürlichen Instinkte alles Weitere übernahmen. Unser Vogelbaby war nun ein fast erwachsener Vogel, der uns durch sein Dasein ein wunderschönes Frühlingserlebnis bescherte.
Tweetie war durch das Gefüttertwerden, durch unsere Hände und durch das viele Streicheln und Schmusen so sehr auf uns Menschen geprägt, dass er sehr gerne und oft auf unsere Schultern geflogen kam und uns immer im Auge behielt, wohin wir uns auch bewegten. Tweetie wollte bei uns sein, auch als großer, selbstständiger Vogel. Zwar flog Tweetie weit weg und war stundenlang unterwegs, aber riefen wir nach ihm oder ließen wir unseren Familiepfiff ertönen, fing Tweetie in einer ganz bestimmten, individuellen Art und Weise, mit für mich absolutem Wiedererkennungswert , an zu tschilpen um uns zu sagen, dass er in der Nähe ist ,oder er kam im Sturzflug angeflogen um auf einer, ihm bekannten ,Schulter zu landen.
Sein Erkennungstschilpen war für mich trotz vieler Vogellaute anderer Vögel immer wieder heraus zu hören. Es war so intensiv und klar, so einzigartig.
Tagsüber flog Tweetie munter umher, kehrte aber immer zwischenzeitlich zu uns zurück. Abends wartete er meist schon auf dem Hausdach, bis wir nach ihm riefen um ihn in seinen Käfig, sein Nest zu
setzen für die Nacht.
Uns war schon klar dass dies alles für Tweetie nicht gut sein konnte. Er konnte nicht lernen, mit den Vogelspezifischen Gefahren um zu gehen. Das konnten wir ihm auch wirklich nicht artgerecht
beibringen.
Zum Beispiel ließen unsere Katzen, damals waren es acht an der Zahl, Tweetie in Ruhe weil sie von uns beigebracht bekamen, dass dieser Vogel eine absolute Tabuzone für sie war. Kamen sie nur
annähernd in die Gegend seines Aufenthaltes, wurden sie von uns mit einer Blumenspritze geduscht. Aber auf dem Lande gibt es sehr viele Katzen und hier waren nur acht Stück, vor denen Tweetie ja
keine Angst haben musste.
Würde er sich immer selber schützen können und konnte er sehen, welche Katze da nun gerade rumschlich?
Tweetie war von Frühling bis Sommerende ein allerliebster Gast aus einer fast anderen Welt. Er hat uns gelehrt die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen und er lehrte uns das Erkennen von
Zwischentönen.
Als der Herbst begann, wollte Tweetie auch Abends draußen bleiben. Eine Zeitlang kam er noch tagsüber angeflogen, tschilpte sein unüberhörbares Erkennungslied und saß oft plötzlich auf unseren
Schultern als wolle er sagen "Hallo Freund, mir geht es gut". Zum Spätherbst kam er dann plötzlich nicht mehr.
Argwöhnig wurden von uns alle Nachbarkatzen angesehen, immer in der Hoffnung, unser Baby hatte es geschafft, seinen eigenen Lebensweg zu finden ohne uns Menschen.
In jedem Vogel, der über uns hinweg flog, hofften wir, ein Zeichen von Tweetie zu finden.
Mir fehlt der kleine ‚gefiederte Gefährte, der mir beibrachte ‚einen Vogel zu verstehen und zu lieben, heute noch und ich habe Sehnsucht nach seiner Melodie.
Marko erzählte, nachdem Tweetie für immer verschwunden war: "Wir hatten mal einen Vogel, aber der hat sich verflogen".