Von Paulchen, der seine Mami verlor

Brigitte Betzel-Haarnagel, 1985

Mitten im Oktober 1985 war es schon sehr kalt für diese Jahreszeit. Fast schon zu kalt für meine Empfindungen. Nicht warm genug angezogen machte ich, als es endlich begann hell zu werden, meinen üblichen, geliebten Morgenrundgang durch den Garten.

 

Es war ein sehr schöner, großer Garten. Ein wild gewachsener und doch geplanter Naturgarten, angelegt mit einem herrlichen Biotop mit Teich. Es gab dort immer etwas Neues, Interessantes zu entdecken, egal zu welcher Zeit ich auch durch den Garten ging.

 

Teilweise waren die hohen Grasbüschel, die schon vertrocknet waren, überzogen von allerfeinsten Spinnennetzen, an denen die filigranen Tröpfchen des Morgentaus aussahen auf den ersten Blick, als seien sie aus purem Engelhaar mit ein geflochten in diese Kunstwerke aus Eiweisfasern. In diesem Garten herrschte ein ganz besonderer Zauber. So manches Mal fühlte ich mich wie eine Hexe, die die Gnade der Erde, des Wassers und Feuers und der Luft hatte, dort für eine Zeit leben zu dürfen Der Geist dieses Gartens hatte mich in den Jahren, meiner dortigen Anwesenheit so vieles gelehrt über unser Leben und den Einklang, den wir haben können mit der Natur und dem Himmel, mit unserer Seele.

 

Ich begann jedes Mal aufs Neue zu träumen, wen ich alleine in diesem Garten verweilte, so manches Mal hatte ich das Gefühl, das kleine Wesen, wie ein leiser Hauch unter Blättern und Büschen , auf Distanz, aber doch spürbar mit mir in Kontakt treten wollten oder mir etwas vermitteln wollten.

Beim langsamen Gehen merkte ich plötzlich, dass ich beinahe auf etwas getreten wäre, was kein Grasbüschel war. Dieses Etwas wirkte irgendwie lebendig.

Vorsichtig kniete ich nieder auf das kühle, nasse, Gras, um dieses Etwas genauer an zu schauen. Ich konnte meinen Augen kaum trauen.

 

Ein ganz winzig kleiner Igel saß da vor mir, zwischen zwei Gras

büscheln. Er war viel zu jung und viel zu klein für diese Jahreszeit. Unmöglich könnte er es alleine schaffen, sich seine notwendigen 500 Gramm Wintergewicht an zu futtern, um fit zu sein für den Winterschlaf in einem großen, kuscheligen Laub oder Reisighaufen.

 

Es war äußerst ungewöhnlich, tags über einen Igel anzutreffen. Diese niedlichen Zeitgenossen sind normaler weise sehr, sehr scheu und da sie nachtaktiv sind, kommen sie eigentlich erst in der späten Abenddämmerung, wenn es bei uns Menschen leiser und ruhiger geworden ist, aus ihren Schlafnestern heraus um auf Futtersuche zu gehen. Sie fressen, wenn wir schlafen. Leider nehmen einige Igel, da sie kein Empfinden für die Gefahr einer Strasse haben, so oft einen falschen Weg und werden überfahren.


Auch in einer so friedlichen Gegend, wie hier , mitten im Moor. Wenn ich ein überfahrenes Tier auf der Straße liegen sehe, überkommt mich immer eine sehr große Traurigkeit. Wieder ein verschwendetes Leben eines Lebewesens, das für unsere voll technisierte und schnelllebige Zeit gar nichts kann. Es war einfach nur da und wollte laufen, irgendwo hin.

 

Unsere Igelgefährten würden im Winter nicht ausreichend Nahrung finden, und so stellt sich ihr Organismus um und funktioniert für die Zeit des Winterschlafes nur ganz, ganz langsam, sofern sie sich genug Winterspeck anfuttern konnten, wachen sie im Frühjahr, wenn die Fröste vorbei sind, wieder auf, für ein neues Jahr voller Abenteuer.

 

Eichhörnchen, einige Vögel und Mäuse legen sich einen Wintervorrat an und wachen nur dann während des Winterschlafes auf, um ihren Energiespeicher, mit ein paar Häppchen, wieder auf zu füllen. Igel aber schlafen normaler Weise den ganzen Winter über durch. Es sei denn, sie werden gestört, dann suchen sie sich schnell einen anderen, sicheren Winterschlafplatz.

 

Igel ernähren sich von Würmern, Schnecken, Vogeleiern, Früchten und wenn sie nichts anderes finden auch von Käferlarven, Mäusen und Schlangen.

Es ist schon eine ausgewogene Ernährung, die diese reizenden Tierchen zu sich nehmen. Reife Beerenfrüchte kombiniert mit Fallobst und Sämereien, Nüssen und Pflanzenwurzeln, Vogeleier und Mäuseschnitzel, als Nachtisch einen kleinen Regenwurmsalat garniert mit Engerlingen- da kann ein Igel nichts verkehrt machen.

 

Das winzige Igelbaby vor mir, hatte höchstens, wenn überhaupt 100 Gramm Körpergewicht, mitsamt seinen zierlichen Stacheln. Ich schätzte sein Alter auf drei bis vier Wochen. Aber genau konnte ich es nicht einschätzen, da ich noch im Leben so ein junges Igeltierchen gesehen hatte.

 

Mir war bekannt, natürlich, selbstverständlich, das es verboten ist, Igel einzufangen und über den Winter zu begleiten. Man geht davon aus, dass sowieso nur ganz wenige Tiere, wenn sie mühsam von Menschenhand über den Winter gebracht wurden, dann, wenn sie wieder in Freiheit entlassen werden, aus eigener Kraft überleben können. Da die besten Igelreviere schon belegt sind, würden sie von ihren Artgenossen, die in Freiheit aus dem Winterschlaf erwachen, stets wieder vertrieben aus den Revieren.

 

Erst mal nicht anfassen, dachte ich, wahrscheinlich ist die Igelmutter mit ihren anderen Igelkindern noch irgendwo in der Nähe und sucht nun dieses Eine. Eine Igelmutter bekommt normalerweise 5-6 Junge. Diese Babys kommen blind, mit zarten, weißen, biegsamen Stacheln zur Welt und erst nach vier Wochen führt die Igelmutter sie dann aus, heraus aus dem sicheren Nest. Die Igelmutter lebt mit ihren Kindern alleine, männliche Igel sind Einzelgänger und bleiben nicht für immer bei dem Weibchen, dass sie begattet haben.

 

Richtig erwachsen sind Igel erst im Alter von einem Jahr. Ich habe schon von Igeln gelesen, die markiert und in Beobachtung waren, die 20 Jahre alt geworden sind. Das fand ich sehr beachtlich und interessant.

 

Irgendwie war mir nun jedenfalls klar, auch wenn das Kleine hier vor mir, noch ein wenig Zeit hätte, bis es sich zum Winterschlaf zurück ziehen muss, bliebe es nun sich selber überlassen, würde es mit Sicherheit das neue Jahr, den nächsten Frühling nicht mehr sehen.

 

Seine Igelmama hatte ihren Nachwuchs in diesem Jahr zu spät auf die Welt gebracht. Pro Tag müssten die kleinen Igelchen feste 5 - 6 Gramm zu nehmen können, bis der harte Frost einsetzt, aber dafür müssten sie auch schon kräftig genug sein, um sich selber die notwendige Nahrung zu suchen. Dieses kleine, stachelige Kerlchen hier, würde es nie und nimmer auf 500 Gramm bringen können, da war ich mir ziemlich sicher.

 

Vorsichtig sah ich mich sehr genau um hier im Garten, ob ich eventuell Igelspuren oder sogar ihr Nest finden könnte. Ich kannte doch jedes Winkelchen dieses herrlichen Paradieses, aber Hinweise auf eine Igelfamilie in unmittelbarer Nähe konnte ich nirgends entdecken.

 

Das kleine Igelchen saß fast regungslos, immer noch an derselben Stelle, an der ich es fast, aus Versehen zertreten hätte. Bei diesem Gedanken fühlte ich mich ganz elend. Auf keinen Fall wollte ich Schuld an einem so frühen Tod sein.

Fast bis zum Dunkelwerden beobachtete ich diese Stelle im Garten, immer wieder lief ich dort hin und immer saß, fast unbeweglich, das Igelbaby auf dieser Stelle. Es wurde auch immer kühler und ich wollte einfach nicht, dass dieses zarte Lebewesen schon sterben sollte, bevor es überhaupt richtig zu leben angefangen hatte.

 

Nein, so schaffst Du es nicht, den nächsten Frühling zu erleben,- dachte ich - und es seinem Schicksal überlassen konnte ich einfach nicht. Es wäre sein sicheres Ende gewesen.

 

Ganz vorsichtig schob ich meine rechte Hand unter das Igelbäuchlein um das kleine Wesen endlich hoch zu heben. Irgendeine Macht war in meiner Nähe, die mir die Gewissheit gab- was Du jetzt tust ist richtig.

 

Das Kleine war federleicht und seine Stacheln waren noch immer recht weich und pieksten kaum. Es versuchte nicht, sich zusammen rollen. Wahrscheinlich hatte es eh keine Kraft mehr oder es hatte das Gefühl für Gefahr noch nicht oder nicht mehr.

 

Sein Köpfchen und seine Bauchseite, und die winzig kleinen Beinchen hatten samtenes Fell. Winzige, schwarze Knopfäuglein sahen mich an und ich konnte in meiner Hand spüren, wie dieses Baby ganz leicht atmete.

 

Nun wollte ich wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, weil ich dem Winzling einen Namen geben wollte, es sah ja irgendwie danach aus, dass wir nun etwas länger mit einander zu tun haben werden.

 

Eindeutig war das kleine Kerlchen männlich. So tief aus dem Bauch heraus fand ich, dass der Name Paulchen am besten zu ihm passen würde. Irgendwie mussten mich, wohl im Unterbewusstsein, die kleinen Stachelchen des Igelbabys an die Sturmfrisur von Paul Breitner erinnert haben. Den fand ich in jungen Jahren recht attraktiv.

 

Also gut, von nun wird also auch ein kleiner Igel Namens Paulchen zu unserer Familie gehören.

 

Wir hatten schon viele Tiere auf gezogen und wenn uns die Geschicke der Naturgeister und des Himmels wohl gesonnen sind, dann wird es uns auch gelingen, einen kleinen Igel am Leben zu erhalten.

 

Paulchen war das alles völlig egal. Er war schwach und erschöpft und sicher sehr hungrig, durstig und müde. Hoffentlich war er nicht schon so sehr unterkühlt, dass meine Hilfe zu spät kommt.

 

Ich rief bei einigen Leuten an, von denen ich annahm, sie wüssten, was ich nun für Paulchen am besten tun konnte. Fast jeder sagte mir, so wie, ich Paulchen beschreibe, würde er sowieso bald eingehen. Ein so kleines Igeljunges könne man nicht von Hand aufziehen.

 

Was, jetzt schon aufgeben? Wir hatten doch noch gar nicht angefangen. Paulchen und ich, wir werden es schon schaffen, das nahm ich mir ganz fest vor. Ich setzte all mein Vertrauen auf helfende Fügungen.

 

Aber wie genau? Schließlich konnte mir Paulchen nicht sagen, was er will und braucht und so ein Igel ist ja wirklich ein ganz besonderes Lebewesen.

Als erstes konnte ich feststellen, dass mein Paulchen reichlich Flöhe hatte. Wenigstens gegen diese Parasiten wollte ich etwas unternehmen, auch um unsere anderen Tiere zu schützen. Mit allem anderen wollte ich Paulchen alleine fertig werden lassen.

 

Ich ließ das Waschbecken im Badezimmer vollaufen mit warmem Wasser und gab ein paar Tropfen unseres Hundeflohshampoons hinein.

Ganz, ganz vorsichtig ließ ich dann meine Hand, auf der Paulchen die ganze Zeit saß, in das warme Wasser gleiten.

 

Wohl durch die Wärme und die Angst vor Wasser bewegte sich Paulchen nun ein wenig. Obwohl alle Igel von Natur aus schwimmen können, wenn sie gesund und bei Kräften sind, hatte Paulchen mit Sicherheit Angst um sein kleines, schwaches Leben. Richtig wehren konnte er sich nicht.

 

Nach guten zehn Minuten erlöste ich Paulchen dann endlich von seinem, sicher unfreiwilligen Bad, und setzte ihn behutsam auf ein Handtuch, dass ich vorher auf die Heizung gelegt hatte.

 

Es schien als fände Paulchen diese Aktion nun in Ordnung. Jedenfalls sah es so aus, als zwinkere mir mein Igelbaby das erste Mal zu.

 

Mitsamt seinem Handtuch setzte ich Paulchen auf den Küchentisch um ihn etwas genauer beobachten und ansehen zu können.

Fluchtreflexe zeigte Paulchen noch immer nicht, dazu hatte er wohl auch überhaupt keine Kraft im Moment.

 

Paulchen saß einfach nur ganz still da auf seinem Handtuch, nur sein winzig kleines Nässchen bewegte sich etwas, er schnüffelte.

So, und was soll ich Dir nun jetzt zu futtern geben? Ich weiß doch nur, was große Igel fressen und dass sie sich sehr gesund und abwechslungsreich und Eiweiß reich ernähren. Wie sollte ich die Muttermilch einer Igelmama bekommen können oder einen gleichwertigen Ersatz?

 

Kuhmilch durfte Paulchen mit Sicherheit nicht haben, sie wäre zu fett und zu schwer. Eine stillende Katzen oder Hundemutter hatten wir zurzeit leider nicht, da hätte ich Paulchen mit angelegt und gehofft, dass das Muttertier uns gewähren lässt.

 

Aus der Not heraus entschied ich mich, aus Fertiggrieß und Katzendosenfutter, etwas Vitamingemisch, ein paar Tröpfchen Sahne und Ziegenmilch, eine dünne Masse zu Mixen und zu pürieren. Da ich nichts anderes da hatte, füllte ich eine winzige Masse dieses Futterbreis in eine Puppennuckelflasche, in der Hoffnung, Paulchen würde verstehen, was ich von ihm wollte.

Vorsichtig schob ich die Spitze des kleinen Schnullers in Paulchens winziges Mäulchen, drückte etwas von dem Inhalt des Fläschchens in sein Mäulchen und staunte nur noch.

 

Sofort begann Paulchen zu nuckeln und seine kleinen Pfötchen zu bewegen, als wolle er ein Gesäuge anregen, seine Milch los zu lassen. Und wie gierig er nuckeln konnte, diese völlig unbekannte Nahrung.

Ich hatte es zwar gehofft, aber nie und nimmer wirklich damit gerechnet, dass er diesen roten, sicher entsetzlich nach Gummi
Schmeckenden Puppennuckelflaschenschnuller so bedingungslos als Milchbar akzeptieren würde und dann noch meine Rezeptur der Überlebensmilch, die er doch auch gar nicht kannte. Der arme kleine Kerl musste so sehr ausgehungert sein, dass ihm wohl alles völlig egal war, was mit ihm hier geschah. Aber sein Verhalten zeigte mir ganz deutlich, er tut etwas, um zu überleben.

Als ich Paulchen den Schnuller wieder aus seinem Mäulchen herauszog. schnaufte er ärgerlich. Wahrscheinlich hätte er noch mehr getrunken, aber ich wollte vermeiden, dass er sich überfraß. Auch wollte ich erst mal sehen, ob sein kleiner Igelmagen mit der merkwürdigen neuen Nahrung klar kam und sie auch bei sich behielt.

 

Aber es sah so aus, als ob dies kein Problem sein würde.

Nach etwa einer halben Stunde des Wartens, begann ich dann, mit dem Stiel eines Teelöffels, Paulchen den Superbrei ein klein wenig dicker an zu bieten.

Nach ein paar Minuten ließ Paulchen es mit sich geschehen, sich den Brei in winzig kleinsten Mengen in sein kleines Mäulchen stupsen zu lassen. Mein Ziel war es, dass Paulchen so schnell wie möglich alleine lernt, seine Nahrung selber auf zu nehmen, um bloß nicht abhängig zu werden von meiner Hand.

Er sollte abwechselnd saugen dürfen, dann aber wieder ohne Saugen sein Fressen annehmen. Das nahm ich mir jedenfalls vor, in der Hoffnung, dass es klappt.

 

Die erste Nacht bei uns sollte Paulchen im Haus verbringen. Ich ließ ihn auf seinem Handtuch sitzen und mitsamt diesem Handtuch wurde Paulchen von mir in eine, mit Heu ausgepolsterte, Holzkiste, für die Nacht hinein gesetzt. Die Kiste stand in der Waschküche, die nicht beheizt wurde. Paulchen sollte sich auch erst gar nicht an unsere, für ein wild lebendes Tier unnatürliche Raumtemperaturen gewöhnen.

 

Draußen, in der freien Natur müssen die Igel ja schließlich auch mit allen Witterungsbedingungen zurechtkommen.

Ich richtete meine Nachtruhe und meinen Tagesablauf darauf ein, dass Paulchen am Anfang alle drei bis vier Stunden mit Nahrung versorgt werden sollte. Im Laufe der Wochen, wollte ich die Zeitabstände dann größer werden lassen und die Futtermengen ebenso.

 

Am nächsten Morgen stand ich dann um vier Uhr wieder vor Paulchens Holzkiste. Ich konnte eh nicht mehr weiter schlafen, weil ich ständig Angst hatte, nicht regelmäßig pünktlich auf zu wachen, um mein Igelbaby zu versorgen.

Mein Töchterchen Steffi war zu dieser Zeit gerade drei Monate alt und musste ebenso wie Paulchen, in regelmäßigen Abständen ihr Fläschchen bekommen, fünf mal pro Tag. Bloß, Steffi meldet sich lautstark wenn es soweit war So war es fast ein Aufwasch mit dem Füttern.

 

 

Wieder stellte ich eine neue Tagesration des leckeren Igelbreis her und es sah fast so aus, als hätte Paulchen schon darauf gewartet.

Problemlos ließ sich das kleine Wesen von mir hoch nehmen, nuckelte gierig zuerst von der flüssigen Nahrung aus seinem Fläschchen und ließ danach wieder, eine ganz kleine Menge des Breis, mit dem Teelöffelstiel in sein, putziges Mäulchen stupsen.

 

Es klappte alles richtig gut. Sogar mit seiner kleinen Zunge leckte Paulchen den Teelöffelstiel dann noch ein wenig ab.

 

Nach dem Frühstück kraulte ich Paulchens Igelbäuchlein, weil ich bei unserer Katze Muschi und unserer lieben Hündin Teddy beobachtet hatte, wie sie ihren Welpen immer nach dem Trinken an der Milchbar, tüchtig die kleinen Bäuchlein abschlabberten und somit massierten, um die Verdauung und Ausscheidung anzuregen. Sicherlich war das auch für Baby Paulchen nicht verkehrt.

Steffi sollte fünf Mal pro Tag ihr Fläschchen haben und Paulchen, so beschloss ich, sechs Mal.

 

In unserem alten. zurzeit leeren Kaninchenstall, der sich im Hühnerauslauf befand, richtete ich für Paulchen aus Heu und Stroh und Zeitungspapierschnitzel ein gemütliches Winterbett her. Er schien auch nichts dagegen zu haben und ließ sich von mir in sein neues Nest hinein setzen.

 

Sollte der Winter uns mit zu großen Minustemperaturen beglücken, konnte ich ja immer noch das Nest weiter abpolstern, notfalls mit Schafwolle und vor die Gittertüre des Kaninchenigelstalles konnte ich noch ein Stück Teppich nageln, aber nur, wenn es wirklich zu kalt werden sollte.

Obwohl ich es gar nicht so wollte und vorhatte, aber mit jedem Tag mochte ich Paulchen mehr. Ich war so froh, dass er weiter leben durfte und mit meinem Nahrungsangebot zurechtkam.

 

Schon wenn ich ihn rief kam er postwendend aus seinem Igelbett gekrabbelt und wollte auf meine Hand. Ob ihr es glaubt oder nicht, Paulchen, der kleine Igel und ich, haben richtig miteinander geschmust. Sicher hätte eine Igelmama auch mit ihrem Igelkind geschmust, irgendwie.

Paulchen mochte es, wenn ich ihn graulte und wenn ich ihn hoch hob, so richtig vor mein Gesicht, dann haben eine Menschenfrau und ein süßes Igelbaby tatsächlich Nase- Nase gemacht.

 

Durch Paulchen habe ich das erste Mal so richtig bewusst wahrgenommen, wie wunderschön und anmutig Igel sind, und ich habe gelernt, dass sie genau so lieb und schmusig sein können, wie jedes andere Haustier auch wenn sie gut behandelt werden und sich an Menschen gewöhnt haben. Sie schließen sich uns an, wir sind ihr Rudel, ihr sozialer Kontakt.

Aber es war so ganz und gar nicht recht, dass Paulchen sich so sehr an mich gewöhnte.

Ich wollte ihm Zuneigung und Wärme geben, das Gefühl nicht alleine zu sein, in seiner misslichen Situation, aber ich hatte kein sehr gutes Gefühl dabei.

Paulchen würde sicherlich seine natürliche Scheu vor uns Menschen und unseren, für ihn so gefährlichen Lebensraum verlieren.

 

Sollte ich ihn denn wirklich ganz alleine, in seinem Igelstall lassen, ihm nur einfach Futter hinstellen und ihm ansonsten keine Wärme und Streicheleinheiten zukommen lassen? Braucht ein Igelbaby nicht doch genauso eine liebevolle Beziehung, wie meine Menschenkinder? Ich konnte Paulchen nur auf meine Menschenart begegnen, seine Igelmutter war ich ja nun mal nicht.

Ich machte mir viele Sorgen und war hin und her gerissen zwischen Vernunft und Herz, ich betete um Beratung und Hilfe
und dafür, dass Paulchen ein richtiges Igelleben führen kann.

Eine höhere Macht musste meine Gebete aufgenommen haben und ließ Paulchen und mir Hilfe zukommen.

 

Nachdem Paulchen schon ganze vier Wochen in seinem Kaninchen-Igelstall von mir versorgt wurde- von einer Menschenmama, konnte er wunderbar völlig alleine sein Tellerchen leer fressen, ganz leer, er ließ kein Krümelchen mehr übrig von seinen Mahlzeiten.

 

Inzwischen bekam er nur noch drei mal am Tag ein Tellerchen gereicht.

Eine Mischung aus Katzendosenfutter, rohes Rinderhack, etwas Wasser und Banane, jeden zweiten Tag noch zusätzlich ein rohes, auf geschlagenes Ei mit etwas Honig waren seine Hauptmahlzeiten.

 

Fand ich bei der Gartenarbeit zufällig, wenn es nicht gerade gefroren hatte, ein paar Würmer oder Engerlinge, bekam Paulchen auch diese Leckerei noch zusätzlich auf sein Tellerchen gelegt.

 

Bis zur nächsten Mahlzeit war immer alles aufgefuttert.

Paulchen nahm gut zu, wurde dunkler im Fell und in den Stacheln, und ich konnte mir vornehmen, Paulchen nur noch einmal pro Tag eine größere Mahlzeit zu bringen. Winterschlaf konnte er nicht halten, dazu war er immer noch viel zu winzig und zu leicht, er musste weiter fressen, aber ich wusste nun, er bleibt am Leben.

 

Gerade hatte ich Paulchens Stall ausgemistet und ihm erzählt, dass er nun ruhig richtig einschlafen kann und auf mich vertrauen kann, dass er jeden Tag sein Futter bekommt und von mir gerufen wird, da kam Besuch zu uns.

Es waren gute Bekannte, die in einer Ortschaft, ganz in der Nähe lebten.

Als sie von Paulchen erfuhren, erzählten sie mir, dass sie schon seit einigen Wochen drei Igelkinder, die sich immer zwischen ihren Tannen aufhielten und noch sehr klein seien, mit Katzenfutter versorgten.

Welch ein Zufall aber auch. Auch, dass unsere Bekannten ein paar Tage verreisen wollten, und eigentlich eine Füttervertretung für die kleinen Igelchen suchten.

 

Das war ja fast ein Wunder. In Paulchens Stall war noch reichlich Platz für Igelbesuch und wenn sie sich alle zusammen kuscheln, dann kann ihnen der Winter nichts mehr anhaben.

 

Nach zwei Tagen kamen die drei Winzlinge in einem Karton zu uns. Nach genauerem Begutachten stellte ich fest, dass es Mädchen waren. Wie gut das aber auch passt.

 

Den geöffneten Karton legte ich nun in den Stall, sehr gespannt, was Paulchen wohl nun machen würde, wenn ich die drei Mädels, die um einiges kräftiger waren wie er, einfach zu ihm ins Nest schickte.

Es war zu niedlich. Paulchen freute sich anscheinend richtig toll über seinen Damenbesuch und machte mit allen so was, wie Nase-Nase und es war zu spüren, wie aufgeregt er war, der kleine Igelmann.

Super dachte ich, nun bin ich auch noch Pflegemutter von vier Igelkindern geworden und Paulchen, kann sich auf seine Mädels konzentrieren, und nicht mehr nur auf mich.

 

Endlich wieder Artgenossen um sich, die so aussahen wie er und auch bisschen so duftenden wie er, ein ganz besonderes, schönes Gefühl musste das sein. Dass die drei Mädels größer und molliger waren wie Paulchen, störte ihn wohl gar nicht. Hauptsache Igel und stachelig.

 

Die Igelmädels hatten auf alle Fälle zuerst mal eine gehörige Mütze voll Angst. Sie waren es ja gar nicht gewohnt, so direkt Kontakt mit Menschen zu haben. Dann auch noch dieser Stall, der, obwohl Paulchen schon ein paar Wochen in ihm wohnte, noch immer sehr intensiv nach unserem Kaninchen roch, dass den Winter lieber im warmen Ziegenstall verbrachte und sich dort unter dem Melkstand ein Nest aus Heu gebaut hatte.

 

Recht schnell verschwanden nun alle vier Igelkinder in dem großen Nesthaufen aus Heu, Stroh und Zeitungsschnitzeln und für mich erkennbar, war es auch den ganzen Winter über immer nur Paulchen, der aus dem Igelnest heraus kam, wenn ich frisches Futter brachte und seinen Namen aussprach.

Da es nun immer eine sehr große Futterportion gab, und da der Teller immer leer war, wenn ich mit neuem Futter kam, ging ich davon aus, dass die Mädels auch fraßen, aber nur, wenn ich nicht zu sehen und zu hören war.

Mein kleines Paulchen suchte immer noch den Kontakt zu mir, den ich aber, nun ohne schlechtes Gewissen, reduzierte. Ich wollte ihn nicht abhängig machen von mir, nur den Winter über von meinem Futter.

 

Die Igelmädchen sah ich nur, wenn ich den Stall ausmistete und die stacheligen Kugeln für einen Moment in eine Holzkiste legen musste.

Alle zwei Wochen musste im Igelstall klar Schiff gemacht werden, denn die Verdauung der Kleinen war anscheinend völlig intakt.

Nun stellte ich das Igelfutter um auf fertig gekauftes Igelfutter und Katzentrockenfutter. War mal kurzfristig kein Frost, gab es auch frisches Wasser, rohes Ei und Honig.

 

Auch diese Futtermischung wurde sehr gut angenommen. Paulchen hatte mit Sicherheit seiner WG bescheid gesagt, wenn es Futterzeit war. Alleine konnte er diese Mengen garantiert nicht auf gefressen haben.

Anfang März beschloss ich, dass alle meine Igelkinder in der freien Natur aus ihrem Teilwinterschlaf aufwachen sollten und nicht eingesperrt in einem alten Kaninchenstall.

 

Außerdem war es bestimmt besser und sicherer, die Tierchen so weit entfernt wie möglich, von Menschensiedlungen anzusiedeln.

Normalerweise leben Igel in Hecken, Geröllhaufen, Knicks, Erd und Reisighaufen, in denen sie unauffällig und getarnt sind. Dort , wo auch die Igelmamas kuschelige Nester aus Laub, Moos, Gräsern und Papier bauen um ihre Jungen zu bekommen.

 

So machte ich mich auf die Suche, nach einem geeigneten Platz für meine vier Igelkinder, der möglichst noch nicht nach anderen Igeln aussah, damit es nicht gleich nach dem Aufwachen Revierkämpfe geben muss und alle wieder vertrieben werden. Paulchen wird sich eh irgendwann alleine auf den Weg machen, weil Igelmänner Einzelgänger sind und sich nur zur Befruchtung mit Weibchen zusammen tun, eigentlich. Vielleicht blieben meine Vier auch zusammen.

 

Weit draußen in der Feldmark, entdeckte ich hinter sechs hohen, alten Eichen, einen verwilderten Knick mit vielen, tiefen Wurzelhöhlen. Dort schien es mir sehr geeignet, für eine Auswilderung.

 

Vorsichtig brachte ich, mitsamt dem Schlafnest, in einem Waschkorb als Transportmittel, meine kleinen Lieblinge zu diesem Platz.

Mit einer kleinen Schaufel höhlte ich eine Kuhle, unter einer dicken Wurzel noch weiter aus, stopfte vorsichtig Nest mit Igeln hinein und deckte den Eingang mit etwas Reisig ab.

 

Großzügig verteilte ich noch einiges Igelfutter um die Kuhle herum. Auch an den nächsten Tagen, wollte ich so noch dafür sorgen, dass die Igelkinder weiter, ihr gewohntes Futter bekommen, in der Hoffnung, dass sie auch selber fündig werden, in der freien Natur.

 

Es fiel mir schwer, mich zu trennen von meinen kleinen Wintergästen und ich betete wieder für sie, für ihr junges Leben.

Kein Paulchen mehr, das mir sein süßes Näschen entgegen streckt und mich mit seinen hübschen , dunklen Knopfäuglein anschaut. Wie traurig für mich.

Fast fünf Monate war Paulchen nun bei mir. Aber wir hatten es geschafft. Paulchen lebt und die drei Mädels auch.

Vor ihnen stand bestimmt ein wunderschöner Frühling und ein hoffentlich, sorgenfreies Igelleben.

 

Sicher waren sie bald in der Lage, selber Igelkinder zu bekommen, hoffentlich auch zur richtigen Zeit.

 

Sie durften alle in Ruhe aufwachen- in ihren ersten Frühling hinein.

Und ich bete, dass sie sich nie verirren, zu einer Strasse hin, dass sie weiter die Hilfe bekommen, die wir den ganzen Winter schützend bei uns hatten.

Es gab eine Macht, die uns alles Gab, was wir brauchten. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das erleben durfte.