15. Mai bis 21. Mai 2009

 

Freitag, 15. Mai 2009

 

Heute konnte ich mich endlich dazu aufraffen, meine liebe Nachbarin anzurufen, die auf der hinteren, anderen Seite unseres Gärtles wohnt. Ich musste sie informieren, dass das Heckenschneiden der arbeitsintensiven Ligusterhecke, die von den Erbauern dieses Häusles 1953 gepflanzt wurde, noch nicht stattfindet und ich konnte ihr erzählen, warum.

 

Wir haben lange geredet. Ihr Mann ist vor ein paar Wochen, urplötzlich, mit 56 Jahren,  an einem Herzinfarkt verstorben und sie lebt jetzt mit all den schmerzlichen Gefühlen, die Trauer und Liebe verursachen.

 

So konnten wir Beide verstehen, was in uns vorgeht im Moment und ich bin froh und dankbar, diese liebe, traurige Seele auf der anderen Seite des Grundstücks zu wissen. Als wir hier 2002 eingezogen sind, waren nicht alle Menschen nett zu uns Reingschmeckten. Aber wenigstens wurden wir herzlich willkommen geheißen von dieser Seite des Grundstückes und beachtet. Ein paar andere Beziehungen haben sich erst etwas später entwickelt.

 

Die Hecke ist unserer  Nachbarin  im Moment noch ziemlich egal und wenn der Auswuchs unserer Hecke sie wirklich stören sollte, wird sie anfangen, sie zu reduzieren. Für uns gäbe es im Moment wirklich Wichtigeres, als die dumme Hecke.

 

 

Hier im Haus und Garten bleibt nun auch so Einiges liegen, ich kann einfach nicht mehr so, wie zu Zeiten, in denen es meinen Mäusen allen gut ging. Aber Eines ist klar, die Arbeit läuft uns ganz bestimmt nicht weg.

 

Da Leben geht rundherum weiter und auch wenn es mir/uns noch schwer fällt, wir müssen trotzdem daran teil nehmen und wenigstens unsere Pflichten erfüllen und aufpassen, dass Nichts aus dem Ruder läuft und uns so noch mehr Arbeit, die es nach zu holen gilt, produziert.

 

In wenigen Stunden werde ich Martin vor der Spätschicht besuchen und träume davon, dass er mich anschaut und erkennt.

 

20.15 Uhr

 

Heute wurde eines der drei Narkosemittel, die Martin nun bekam, ganz raus genommen. Immer noch ist er in tiefer Narkose und ich hoffe, dass langsam, ohne weitere Krampfaktivität, die Sedierung gänzlich unnötig wird.

 

Wie sein Körper damit umgeht und mit dem Verarbeiten der vielen, anderen Medikamente, die er bekommt, wird sich zeigen. 15 Tage Narkose liegen nun schon hinter dem kleinen Mann und hinter uns.

 

Martin schwitzt sehr stark, wohl auch sicher durch die wechselnde Herzfrequenz, die mit Medikamenten gesteuert wird. Heute Morgen war seine Temperatur bei 37,8. Zur Zeit benötigt er auch immer noch ständig Insulin.

 

Martin wird, seit er auf der ITS liegt,  jeden Tag von einer Physiotherapeutin ein paar Minuten durch bewegt, so kommen hoffentlich keine weiteren Kontrakturen auf. Eigentlich müsste er sehr viel mehr bewegt werden, das Bisschen, das ich machen kann den Mangel nicht ausgleichen.

 

Wieder wird es für uns ein Warten auf den neuen Tag mit Gebeten, dass es nun positiv voran geht für unseren Liebling.

 

 

Samstag, 16. Mai 2009

 

Alpträume plagen mich in der Nacht. Ich weiß nicht, ob es meine Ängste sind, die diese Träume hervorrufen oder ob es Hinweise für mich sein sollen. Warum kann nicht einfach wieder Alles so sein, wie vorher?

 

15.00 Uhr

 

Von 100% schlecht gehen, hat Martin vielleicht 5 % bewältigt bis jetzt. Die Narkose wurde in der Nacht weiter reduziert und als  wir heute Vormittag an sein Bett kamen, hatte er die Augen auf.

 

Was er,  wie, umsetzen kann, können wir noch nicht sagen, nur, dass er sehen kann mit seinem einen, sehenden Auge.

 

Eine Schwester hatte einen Hängeschrank in Martins Blickrichtung aufgefüllt mit Handtüchern, Waschlappen usw. Jürgen hat gesehen, dass Martins  Augen mit  Ihr gingen.

 

Es geht ihm immer noch grottenschlecht und diese Aufwachphase, sofern man jetzt überhaupt davon schon reden kann, wird Zeit brauchen. Ob er uns dann noch erkennt, wissen wir nicht. Wir hoffen nur, dass er uns nicht als unangenehm empfindet oder Angst vor uns hat. Gegebenenfalls darf er seine Familie dann wieder neu kennen lernen, und hoffentlich sind wir unserem Kind dann auch wieder sympathisch.

 

Martin fängt  immer noch an zu krampfen, wenn er gewaschen wird und  Mundpflege bei ihm gemacht wird, wenn er gelagert wird. Vielleicht auch im Moment nur ein Reflex, auf Alles, was auf ihn zukommt.

 

Selbst wenn er wieder ein wenig denken kann, wird  er sicher nicht wissen, wo er ist, und was passiert ist mit ihm und in den letzten Wochen. Ob er sich überhaupt noch an die Zeit vor dem Supergau erinnern kann, werden wir erst erfragen können, wenn wir merken, dass er uns wieder verstehen kann. Im Moment kann er Gehörtes nicht verarbeiten, umsetzen. Die Krankenschwester, die heute für ihn zuständig ist, meinte nur, dass er mit Sicherheit wieder hören kann, wenn er vorher hören konnte. Noch reagiert Martin auf keinerlei Geräusche, die es in unterschiedlichen Variationen auf dieser Station gibt.

 

Jürgen hat von seinem Dezenernatsleiter das Okay bekommen, Jederzeit gehen zu können, wenn es nötig wird oder wenn er einfach nicht mehr kann. Wir können jederzeit nachts angerufen werden, ich kann definitiv mindestens jeden Mittag bei Martin sein, Jürgen kann jeden Abend bei ihm sein. Es ist möglich, wenn wir gebraucht werden, dass wenigstens Papa oder Mama bei Martin sein werden, wenn es für ihn wichtig ist. Notfalls kann ich auch mal über Nacht bei ihm sitzen und vom KKH direkt zur Arbeit gehen. Wir haben ja eine Kaffeemaschine dort.

 

Jürgen konnte Martins Haare mit der Maschine entfernen,- die Schwester und ich haben irgendwie Martins Köpfle gehalten. Nun sieht Martins Frisur nicht hübsch aus, da es nicht so einfach ist, in diesem Zustand ein Top Ergebnis zu erreichen, aber es wird ihm gut tun, nicht mehr so sehr über den Kopf zu schwitzen.

 

Finger und Fußnägel durfte Jürgen auch etwas kürzen und so wird es erst Mal alle zwei Wochen so gehandhabt werden.

 

In der Zwischenzeit waren wir bei Steffi in Markgröningen um mit ihr einkaufen zu gehen, dann ist Jürgen wieder mit unserem Hundchen , das im Moment komplett zu kurz kommt, Gassi gegangen und nun bereiten wir uns auf den Abendbesuch bei Martin vor, etwas entspannter, als an den letzten 16 Tagen.

 

Steffi hat heute beim Einkaufen , das erste Mal, Etwas über ihren Bruder gesagt. Baggi krank. Steffi nennt Martin von Anfang an liebevoll Baggi und die Beiden waren, bis auf einige Ausflüge der Kitagruppen und später durch Klassenfahrten der Schule, immer, jeden Tag zusammen. Steffi hat Martin immer sehr gebraucht und sich an ihm orientiert. Vielleicht hat ihr Martins KKH Aufenthalt nun geholfen, sich von ihrem Bruderherz endlich ein Stück weit ab zu nabeln.

 

Unsere Zeit reicht nicht mehr aus, für Alles, was am Tag gemacht werden müsste.

 

20.00 Uhr

 

Martins Zustand hat sich zumindest nicht weiter verschlechtert im Laufe des Nachmittags und wir haben um das Okay gebeten, auch am Sonntag wieder am Vormittag zu Martin gehen zu dürfen, da  wir unsere Zeit aufteilen müssen. Abends werden wir nun immer an Martins Seite  sein.

 

Martin konnte in Jürgens Richtung  schauen und als Jürgen seine Position verändert hat, schaute Martin im nach. Da er seinen Kopf noch nicht bewegen kann, ging dieses Anschauen nur, solange Jürgen sich im Bewegungsradius von Martins Augen aufhielt.

 

Ich saß auf einem Stuhl, neben Martins Bett und die Augen nach unten zu bewegen, schafft mein Kind noch nicht.

 

Wir durften Martins Bett mit beziehen und ihn lagern. Nun versuchen wir, etwas ruhiger zu werden und nur noch daran zu glauben, dass es Martin wieder gut gehen wird.

 

 

 

 

           Denn ein Baum hat Hoffnung,

           auch wenn er abgehauen ist,

           er kann wieder ausschlagen,

           und seine Schösslinge

           bleiben nicht aus.                               Hiob 14,7

 

 

 

Sonntag, 17. Mai 2009

 

In der Nacht erst wurde mir so richtig bewusst, welch großes Geschenk wir gestern  bekommen  haben.

Martin konnte, trotz  immer noch sehr starker Sedierung, seine Augen öffnen und er kann sehen.

 

So haben alle positiven Gebete, Wünsche, alle Liebe, die Martin zufloss in dieser schweren Zeit, zusammen mit der Schwerstarbeit der medizinischen Behandlung, eine erste Wirkung gezeigt. Martins Lebensuhr ist bestimmt noch nicht abgelaufen, jetzt noch nicht.

 

Es liegt noch ein großer Berg vor uns, den wir gemeinsam erklimmen müssen, mit kleinen Schritten.

 

Wir haben schon so viele Probleme bewältigt, so viele Hürden beseitigt in unserem Leben, der Himmel möge uns die Kraft geben, nie auf zu geben.

 

In Ludwigsburg ist wieder reges Treiben in der Stadt. Der jährliche Pferdemarkt, eine sehr große Veranstaltung in der City, ist in vollem Gange. Einige Straßen sind abgesperrt, weil heute Mittag ein großer Umzug stattfindet.

 

Wir werden heute sicherlich Probleme haben, einen Parkplatz zu finden, um unseren Engel zu besuchen. Das Parkhaus des KKH ist einfach zu teuer und wir brauchen im Moment schon erheblich mehr Spritgeld für die Fahrten jeden Tag.

 

19.00 Uhr

 

Die 5% besser Gehen haben sich gehalten. In der Nacht beschlossen die Ärzte, die Narkose nun ganz raus zu nehmen, und zu schauen, was passiert.

 

Die Elektroden für die EEG  Aufzeichnungen wurden auch entfernt. Nach meinem Bauchgefühl zu früh, ich hätte diesen Mut noch nicht gehabt.

 

Es ginge Martin ordentlich, meinte die Schwester, die heute Frühdienst hätte. Ab und an krampfe er noch ein wenig, man müsse sehen.

 

Stimmt schon, im Vergleich zu vor 14 Tagen geht es Martin heute wirklich ordentlich.

 

Am Nachmittag sprachen wir kurz mit einer Ärztin der ITS . Es sei ein Versuch und Martin wird engmaschig beobachtet. Kontakt mit ihm auf zu nehmen, sei noch nicht geglückt. Wie auch, nach so langem Tiefschlaf?

 

Nun ja, wir haben ja erst das Geschenk des Augen Öffnens bekommen und wissen, dass er hört. Sein Gehirn muss sich erst wieder an so Vieles gewöhnen können, bevor Martin  sich vielleicht erinnern, und alle  Reize umsetzen kann.

 

Die Beatmungsmaschine ist derzeit bei unseren Besuchen so eingestellt, dass Martin mit nur wenig Unterstützung selber atmen kann.

 

Gestern hatten wir gesehen, dass Martins Augen hinter Personen, die sich bewegen, her gehen. Heute empfanden wir Dies nicht so. Aber er hört. Bei lauten Geräuschen bewegt er seine Augenlieder.

 

Da wir Alle nicht wissen, was der Krampfanfall, die Blutung  und die lange Narkose in Martins Gehirn verändert oder ganz wegradiert  haben, müssen wir warten, bis er sich von den Nachwirkungen der Narkose erholt hat. Dann können wir anfangen, mit ihm zu arbeiten. So als Grobziel haben wir Mittwoch/Donnerstag im Kopf. Möglicherweise kann Martin auch weitere Hilfe verordnet bekommen, wie Logopädie und Ergo, sofern dies in einem Klinikalltag vorgesehen ist.

 

Im Moment ist jedenfalls dieses große Angstgefühl der letzten Wochen in uns erst einmal geschrumpft,  auf ein erträgliches Maß.

 

Vielleicht klappt es  nun auch wieder mit dem Schlafen für uns. Ich für mein Teil fühle mich ziemlich kaputt im Moment und hoffe, dass sich auch mein Nervenkostüm nun etwas erholt.

 

Morgen früh werde ich anrufen auf der Station, und wenn nötig, auch sofort zu Martin fahren. Da ich Spätdienst habe, kann ich mir die Zeit gut nehmen. Geht es unserem Kind besser, wird es auch uns sicher bald wieder besser gehen.

 

 

Montag, 18. Mai 2009

 

In der Nacht kamen Ängste in mir auf, dass Martin vielleicht gar nicht mehr aus seinem derzeitigen Zustand auftauchen kann, dass er uns vielleicht gar nicht mehr erkennen kann und sich an Nichts mehr erinnern kann. Dass er einfach ausgeschaltet bleibt. Von seinem Gehirn war doch auch schon vor diesem Supergau ein großer Teil einfach tot, was, wenn nun der ehemals lebendige Teil nicht mehr arbeiten kann?

 

Die Gedanken machen sich im meinem Kopf  selbstständig, als wollten sie einen Dialog mit mir führen.

 

Nun werde ich wieder innerlich unruhig und bekomme Angst vor der Zukunft und auch schon, vor den nächsten Tagen.

 

20.00 Uhr

 

Keine Regung, nicht die Spur einer Bewegung. Die Augen nicht ganz  geschlossen, aber auch nicht sehend. Martin sah so bleich aus, der Blutdruck war total niedrig. Schon einige Male hatte ich den Eindruck, dass mein Kind sich lieber verabschieden möchte als den Kampf um ein Weiterleben auf zu nehmen.

 

Ich weiß nicht wie lange ich mich noch zusammenreißen kann,  und nicht bald weinend über meinem Kind zusammenbreche.

 

So,  wie Martins Verfassung auf mich wirkt, könnte ich es jetzt schon fast vegetatives Wachkoma nennen.

 

Heute hatte ich das Gefühl, als ob mich einige Menschen nur mitleidig anschauen. Tag für Tag sitze ich / sitzen wir Stunden am Bett unseres Kindes und hoffen auf ein klitzekleines Lebenszeichen von ihm. Ein bisschen Bewegung in seinen Fingern, seiner Mimik, um die Hoffnung wieder wachsen zu lassen.

 

Was hat Martin im Moment vom Leben und wie wird es in der nächsten Zeit für ihn sein? Was spürt er und was nimmt er noch war?

 

Wir brauchen ein Wunder, ein Wesen, das den Schlaf von meinem Kind nimmt. Ich möchte dieses Kind zurück haben, Das in der Nacht des 1. Mai gegangen ist. Möchte sein Lachen wieder hören, seine Freude und Wärme wieder spüren, wenigstens noch 30 Jahre, bis ich auch gehen muss.

 

 

Dienstag, 19. Mai 2009

 

Bin nervös und am Zittern, Was mich heute bei meinem Besuch bei Martin erwartet. Darf mein Kind aufwachen oder ist sein lebendiges Leben wirklich schon ganz vorbei? Wie dankbar bin ich für jeden einzelnen Tag und ich will einfach nicht, dass schon Alles vorbei sein soll. Ein junger Mensch, mit purer Lebensfreude und so positiven Wesen kann doch einfach nicht schon ausgelebt haben.

 

20.00 Uhr

 

Keine Regung ist in Martins Körper, die Augen sind phasenweise nur einen klitzekleinen Spalt geöffnet, sogar die KG ließ mein Junge über sich ergehen ohne Regung, dies würde er sonst nie im Leben zulassen.  Er hasst KG seit vielen Jahren schon, ist therapiemüde. So sah es heute Mittag aus, als ich alleine bei ihm war. In der Sonne hatten wir 42 Grad und dementsprechend gequält habe ich mich gefühlt. Hitze war noch nie  mein/unser Ding. Wir sind keine Sommermenschen und eigentlich hier im Süden völlig fehl am Platze.

 

Als Jürgen und ich dann heute Abend im Doppelpack ankamen, meinte die Schwester, Martin hätte uns bemerkt, er habe als wir auf die ITS  kamen, mit Herzfrequenzerhöhung reagiert. Sie war gerade beim Blut abnehmen für den Blutzuckertest als wir auf Station kamen und hatte den Monitor über Martins Kopf im Auge.

 

2x haben sie heute versucht, ob Martin endlich ohne Maschine atmen kann, es funktioniert leider noch  nicht. Die Schwester meint, er sei noch zu schwach, um vollständig alleine atmen zu können. Sie werden es immer wieder versuchen. Erst wenn Martin wieder sicher alleine atmet, wird er auf die Halbintensivstation, nach nebenan, verlegt werden.

 

Wir wollen einfach hoffen, dass es mit dem Atmen diese Woche noch klappt.  Jürgen hat vorsichtshalber für die nächste Woche Urlaub genommen, da ich jeden Tag Frühdienst habe und an einem Tag auch noch Spätdienst dazu. So könnte er Martin dann wieder zur Seite stehen und ich kann meinen Mann  über die Mittagszeit ablösen, an vier Tagen dann auch bis zum Abend im KKH bleiben.

 

 

Mittwoch, 20. Mai 2009

 

Ein kleiner Lichtblick ist wieder aufgeleuchtet. Jürgen und ich wissen jetzt, dass Martin uns verstehen kann. Aber es ist ein wahnsinniges Trauerspiel, er kann absolut kein Körperteil bewegen. Er würde nur all zu gerne, das wissen wir, aber es ist alles blockiert in seiner Schaltzentrale. Wie grausam muss das sein, immer noch eingesperrt zu sein in einem Körper, der noch vor ein paar Wochen so Vieles konnte, so lebendig war.

Seine Augen kann Martin  immer mal wieder einen Spalt weit öffnen und wir wissen auch, dass er uns erkennt und dass es ihm nicht gefällt, wenn wir wieder gehen. Er muss lernen, dass wir es nicht länger als maximal 4 Stunden pro Tag auf der ITS aushalten und  aufpassen müssen, dass wir unserem kleinen Kämpfer nicht Trauer und Angst vermitteln. Ich drehe mich immer weg von seinem Gesicht, wenn ich spüre, dass Tränen auf kommen bei mir.

 

Heute haben wir uns erlaubt, einen der zahlreichen Ärzte zu bitten, sich für mehr KG als 10 Minuten pro Tag ein zu setzen für unseren Sohn und dass ihm während der Pflege Reize gesetzt werden, ohne, dass das Personal Mehrarbeit hat. Basale Stimulation einsetzen, kühles Wasser zum Waschen nehmen, keinen weichen Waschlappen, sondern einen rauen Schwamm. Immer wieder Reize setzen um neuronale Verknüpfungen zu provozieren.

 

Keine Ahnung, ob wir hier wirklich ernst genommen werden, oder ob wir nur als lästige Angehörige angesehen werden. Keine Ahnung, ob unsere Bitten erfüllt werden, oder ob diese Bitten überhaupt verstanden wurden. Bemerkt haben davon jedenfalls Nichts.

 

Wir haben dem Arzt und den beiden Pflegern versucht klar zu machen, dass Martin zur Zeit Alles verstehen kann, was geredet wird. Martin hat unseren Worten sehr genau zu gehört und uns angeschaut.

 

Atmen ohne Maschine geht immer noch nicht, Blutdruck, Herzfrequenz laufen immer wieder aus dem Ruder und müssen mit Medikamenten in Schach gehalten werden.

 

Wenn nur das Atmen endlich wieder eigenständig funktionieren würde, damit wir aus  dieser Station endlich raus kommen.

 

Warum kann ich meinen Jungen nicht einfach mitnehmen und ihm all Das geben, was er im Moment braucht? Warum bin ich so machtlos und hilflos? Morgen sind wir ganze 3 Wochen auf der ITS.

 

 

Donnerstag, 21. Mai 2009 - Vatertag

 

Jürgen kommt seiner Vaterrolle im Moment mit sehr viel Trauer im Herzen nach. Er sitzt neben Martin und ich sehe pure Angst in ihm. Jürgen würde absolut Alles für Martin tun, wenn er ihm nur helfen könnte, wieder so gesund zu werden, wie er vor ein paar Wochen war. Jürgen sitzt neben einem Kind, dass er sehr liebt, auf der Intensivstation, bangt um Martins Leben und viele andere Männer kippen sich am heutigen Tag, die Birne voll ohne nach zu denken, was Leben und Vatersein, Verantwortung überhaupt bedeutet. In mir schreit Alles nach Hilfe und nach meinem Kind.

 

Ich habe  frei  heute und kann mich wieder ein Wenig um den Haushalt kümmern, was inzwischen auch dringend notwendig ist. Mir fehlt es einfach an Kraft im Moment, die Hausarbeit, und was noch viel schlimmer ist, die Gartenarbeit, die mir eigentlich sehr am Herzen liegt, zu bewerkstelligen.

 

 Draußen lebt sich ein Gewitter aus, mit heftigem Regen und auch in der Nacht wurde mein nur noch leichter Schlaf immer wieder von Donnerschlägen unterbrochen.

 

Die Fensterscheiben auf der ITS sind so dick, dass keinerlei Geräusche von außen in die Räume eindringen. Man kann zwar sehen, dass es blitzt, aber den dazugehörigen Donnerschlag gibt es dort nicht, er dringt nicht in die Räume durch. Eine völlig unnatürliche Welt , nur mit den Geräuschen der Geräte und der Menschen . Diese Geräusche höre ich inzwischen schon überall, sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt und machen mir noch mehr Angst um mein Kind. Oft habe ich das schmerzliche Gefühl, Martin ruft verzweifelt nach mir und ich kann nicht bei ihm sein, ihn nicht erreichen.

 

Wir werden mittags wieder zu Martin fahren und ich nehme mir vor, es heute länger aus zu halten an seiner Seite. Wenn mir nicht nur ständig übel würde auf dieser Station. Nach ca. einer Stunde Anwesenheit dort, geht es in meiner Magengegend los. Wahrscheinlich sind es meine Nerven, die sich verselbstständigen ohne, dass ich es steuern, beeinflussen kann. Ich will doch stark sein und genügend Kraft für uns Alle haben.

 

Wir hoffen sehr, dass sich nun bald noch mehr positiv entwickelt in Martins Köpfchen, außer Hören und Verstehen. Es muss wahnsinnig grausam sein, reden zu wollen, sich bewegen zu wollen, schreien zu wollen und man kann es einfach nicht, man ist gefangen in seinem Körper. Mein Kind ist gefangen in seinem Körper und Allem, was mit ihm gemacht wird, was um ihn herum geschieht, hilflos ausgeliefert, an jeder Sekunde des Tages.

Jetzt müssen wir erst mal die Mitarbeiter der ITS weiter sensibilisieren, dass sie uns auch glauben, dass unser Sohn  hören und verstehen kann. Auch vor dem Hintergrund, dass sie darauf achten, was vor und neben Martin geredet wird.

 

So sind wir sicher inzwischen die unbequemsten Angehörigen, ohne Jemandem etwas Böses zu wollen oder nerven zu wollen. Wir wollen nur das Beste für unser Kind, was unter den gegebenen, traurigen Umständen, möglich ist.

In 2 1/ 2Std. wissen und sehen wir wieder mehr.

 

20.00 Uhr

 

Nichts ist besser als gestern. Heute war Martin noch kraftloser, als die letzten beiden Tage. Seine Augenlider waren nur einen sehr minimalen Spalt weit  geöffnet, er fiebert mit 39,2  und braucht nun wieder fiebersenkende und somit auch schmerzlindernde Medikamente.

 

Niemand kann es verstehen und Niemand will es akzeptieren, dass es Martin so entsetzlich schlecht geht und dass er nicht wieder munterer werden kann. Er, der immer so fröhlich und voller positiver Energie war.

 

Ein Praktikant war heute im Einsatz auf der Station. Er macht derzeit eine Ausbildung zum Rettungssanitäter, muss 160 Stunden Praktikum im klinischen Bereich leisten.

 

Da er in den letzten Jahren ehrenamtlich beim DRK tätig war, konnte er sich an Martins Gesicht erinnern, dass er auf dem großen Foto, das über seinem Bett hängt, gesehen hatte.

 

Der Praktikant war als Sani beim letzten Sommerfest des Behindertenheimes in Markgröningen im Einsatz und wir wissen, dass Martin jedem Menschen, der sich Menschen bewusst anschaut, auf fällt.

 

Momentaufnahmen aus Martins glücklicher, lebendiger Zeit.

 

Inzwischen beginnt auch Steffi mit Reaktionen, weil sie ihren Bruder solange nicht mehr gesehen hat. Als wir heute Nachmittag  einen Besuch in der Gruppe gemacht haben, hat uns Betreuerin Siggi so Einiges erzählt. Steffi verweigert  sich, in die Werkstatt zu gehen, ist plötzlich verschwunden und das ganze Gelände wird  erfolglos nach ihr abgesucht. Irgendwann ist sie dann nach Stunden plötzlich wieder da.

 

Meine Tochter sieht im Moment auch sehr traurig und unsicher aus. Vier Wochen ohne Martin ist für ihr kleines Herz nun doch zu viel. Martin war immer Steffis Orientierungspunkt im Leben. Ich kann es nur allzu gut verstehen, das der Bruder unserer Maus so sehr fehlt. Wie groß ist doch unsere Angst, bald  ohne Martin weiter leben zu müssen.

 

Wie soll Steffi die weitere Trennung nur verkraften? Sie ist nicht so verständig, dass wir der armen Maus erklären könnten, warum und weshalb Martin nicht bei ihr und  in der Gruppe sein kann.

 

Gerade heute musste ich daran denken, dass Martin uns vielleicht sagen will, wir sollen ihn doch bitte gehen lassen. Wir saßen an seinem Bett, mussten mit erleben, wie sich Atmung, Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur plötzlich verändern und wieder mit Medikamenten etwas beeinflusst werden müssen. Ohne das Beatmungsgerät und die ganzen Medikamente, nun schon über Wochen, wäre unser Sohn schon nicht mehr bei uns. Nein, so stimmt diese Aussage nicht. Nicht mehr physisch bei uns,  wäre passender formuliert. In unseren Herzen, Gebeten, Gedanken wird Martin stets das helle Licht sein, Das Er immer für uns war. Unsere Liebe für ihn wird immer existent sein, egal, welchen Weg er gehen wird.

 

Er kann noch immer absolut kein Teil  von seinem schlaffen Körper mehr bewegen, außer ein wenig die Augenlider. So als käme alles andere nicht mehr in seinem Köpfchen an, Funktion gelöscht.

 

So viele Menschen sind traurig mit uns, weinen um diesen lieben Menschen, beten für ihn. Was sollen wir denn nur noch tun?

 

Wir müssen es irgendwie auf die Reihe kriegen, uns auch wieder mehr um Steffi kümmern zu können. Nur wissen wir nicht ganz,  wie wir die knappe Zeit noch einteilen sollen.  Nun habe ich auch Angst um meine Tochter, die sich sicherlich sehr einsam und alleine gelassen fühlt und  ihren Bruder und langjährigen Lebensgefährten vermisst, in ihrem Leben. Martin war für Stefanie sicher der wichtigste Mensch in ihrem jungen Leben. Die beiden Mäuse haben sich immer verstanden. Streit unter Geschwistern, in der üblichen Form gab es zwischen meinen Kleinen nicht. Sie sind einfach anders, liebevoll anders.