22. Mai bis 28. Mai 2009
Freitag, 22. Mai 2009
Ich kann und will es mir nicht vorstellen, wie unser Leben ohne Martin aussehen sollte, wenn er wirklich gehen muss.
Die letzten drei Wochen haben mein Kind so quälend zerstört und ich habe kein gutes Gefühl mehr in mir. Ich will nicht, dass mein Liebling leiden muss, auf keinen Fall. Wahrscheinlich hätte ich mich in solch einer, schier ausweglosen, Situation schon lange aufgegeben. Inzwischen glaube ich auch nicht mehr daran, dass es möglich ist, Martins Weiterleben sehr viel länger zu erzwingen.
Selbst wenn Er nun wieder anfangen könnte, selber zu atmen, so wie es sich im Moment darstellt, wäre Martin dann ein Intensivpflegefall mit sehr hohem Betreuungsaufwand. Die meisten Mitarbeiterinnen seiner Wohngruppe gehen teilweise schon jetzt bis an ihre Grenzen der Belastbarkeit, mit Freizeit und Urlaubsverzicht. Nie werde ich diese Entwicklung in der Pflege verstehen können. Für so viele , unnötige Dinge wird Geld an jeder Ecke verschwendet, aber für ausreichendes Pflegepersonal wird immer weniger Kapital eingesetzt, obwohl es beachtliche Beträge an Umsatz im Monat sind, die so über die Konten gehen.
Gestern noch habe ich zu dem diensthabenden Pfleger gesagt, dass wir nächste Woche diese Station verlassen wollen, wenigstens nach Nebenan, auf die Halbintensiv. Nun habe ich Angst, dass wir die Station in eine ganz andere Richtung verlassen müssen, dass es kein Zurück ins Leben mehr gibt für mein Kind.
Martin kann nicht mehr kämpfen in dieser entsetzlichen Kraftlosigkeit, er hat einfach keine Reserven und Ressourcen mehr und wir wissen nicht, wie wir ihm dazu verhelfen können.
Kann nicht bitte doch ein Wunder geschehen und unser Kind zurückführen, ins Heute und in unser Leben?
Es tut uns Allen so weh, Martin so leiden zu sehen und es scheint mit diesem Leid für Ihn kein Ende zu nehmen.
Heute habe ich wieder Spätschicht. Es fällt mir immer schwerer, nach den Besuchen bei Martin, mich auf die Bewohner in der Einrichtung, in der ich im Moment arbeiten darf, einstellen zu können, die ein Recht auf meine Aufmerksamkeit und Zuwendung haben. Sie haben ein Recht darauf, in ein frohes Gesicht blicken zu können, das ich zurzeit nicht mehr immer bieten kann.
Alle meine Gedanken und Gefühle sind bei meinem Kind, die Geräusche der Station verfolgen mich immer intensiver, machen mir inzwischen so viel Angst.
20.00 Uhr
Martins Augen sprechen Bände wenn wir uns von ihm verabschieden. Klar und deutlich sagen sie uns, muss das denn sein, bleibt doch bei mir. Und es tut weh zu gehen, den kleinen Kerl dort zurück zu lassen. Ausgeliefert, hilflos, bewegungslos, ohne Stimme.
Die begründete Vermutung steht ihm Raum, dass sich die Hirnblutung auf das Atemzentrum gelegt hat. Die anfänglichen Aussagen, dass die Blutung auf einem Areal liegt, das so eine Art Schaltfunktion zwischen vielen, wichtigen Bereichen ist, scheint in vollem Umfange zu zu treffen.
Eine schlechtere Stelle kann es kaum geben, für so einen schlimmen Zwischenfall. Warum kann sich das Blut nicht verteilen, auflösen? Oder ist es schon die verbliebene Narbe, die nun genau dort auf die Zellen drückt, die Martin zum Leben so dringend braucht?
Es ist kaum vorstellbar, dass unserem, eh schon so schwer behinderten Kind, so fast Alles genommen wird, was es hat und wir können es nicht ersetzen.
Jürgen will nächste Woche versuchen einen Gesprächstermin bei dem Chefarzt der Neurologie zu bekommen, der inzwischen maßgebend an Martins Behandlung beteiligt ist, Den wir aber noch nie zu Gesicht bekommen haben. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Möglichkeit, Martin zu helfen. Vielleicht, wenn wir privat eine andere Behandlung bezahlen, die die Kasse vielleicht ansonsten nicht übernimmt. Es besteht jedenfalls dringender Gesprächsbedarf.
Mein rechtes Schultergelenk schmerzt inzwischen heftig, durch die stundenlangen, monotonen Bewegungen an Martins Bett in verschränkter Haltung, habe ich mir einen Nerv eingeklemmt. In der Zeit, in der wir bei Martin sind, streicheln und massieren wir seinen unbeweglichen Körper, damit er sich wenigstens etwas spüren kann in dieser , auf den ganzen Tag gerechneten, kurzen, Zeit.
Samstag, 23. Mai 2009
Seit vier Wochen nun sieht und hört Martin nur diesen einen Raum in der ITS und sehen auch nur, was sich in dem Bewegungsradius seines linkes Auges befindet. Je nachdem, wie er gelagert wurde. Mal rechte Seite, mal linke Seite, mal mittig. Und dann ist es auch wieder abhängig, von der Höhe, in der sein Pflegebett jeweils eingestellt ist.
Schon alleine die Geräusche der Geräte aus allen Ecken und Räumen würden mich in den Wahnsinn treiben.
Die einzige Abwechslung , die mein Kind hat, sind die ständig wechselnden Pflegekräfte und Ärzte, die Medikamente, die durch seinen Venenzugang oder den Schlauch der Magensonde gejagt werden, oder die Untersuchungen.
Kein Radio, kein TV, Nichts außer den Gegebenheiten der Station.
Die wenigen Stunden, die wir bei ihm auf der ITS sind, decken in etwa ein Sechstel des Tages ab.
Martin schläft noch sehr viel, sicher auch die einzige Fluchtmöglichkeit vor diesem, mehr als grauen, Alltag.
Wir müssen endlich versuchen, wenigstens daran für ihn etwas zu verändern. Für mich kommt das Alles schon einer Folterstrafe gleich. Es ist wie ein Horrorfilm.
11.00 Uhr
Steffimaus haben wir heute Vormittag zum Einkaufen abgeholt. Viel mehr können wir ihr im Moment gerade nicht bieten. Sie saß schon wartend auf uns, beim Frühstück, im Tagesraum der Wohngruppe.
Armes Kind, nun muss auch sie immer noch kürzer treten.
Beim Einkaufen sagte ich zu Jürgen, ob es wohl hier so ganz kleine Radios gibt? Steffi hatte diese Worte gehört und meinte—aha, für Baggi. Wir hatten gar nicht weiter darüber gesprochen, nur diese paar Worte sind gefallen.
Nun wollen wir hoffen, dass Martin Radiohören schon ertragen kann und sich über das kleine Teilchen freut.
Vielleicht kann er nächste Woche eventuell, mit einem kleinen DVD-Player, etwas Zeitvertreib ertragen. Wir müssen erst sicher sein, dass es für Martin keine zusätzliche Belastung wird, bevor wir so ein Gerät kaufen, und ob das Pflegepersonal bereit ist, sich mit um solche Geräte zu kümmern. Keine Ahnung, ob das zum Roomservice dazu gehört.
20.00 Uhr
Keine Veränderung zu gestern. Als wir mittags kamen, war Martin sehr kühl am ganzen Körper. Ich habe eine dickere Decke über ihn gelegt, da er schon teilweise Gänsehaut hatte. So kann das sicher nicht positiv sein, auch wenn er immer wieder fiebert.
Nun verliert mein armes Kind auch noch an Gewicht, sein Gesicht wird spitz und schmal, die Finger sind kalt, dürr und sehr hell.
An einen DVD Player brauchen wir noch lange nicht zu denken. Martins Augen sind die meiste Zeit geschlossen, bis auf einen winzigen Spalt. Er scheint auch sehr geräuschempfindlich zu sein. Wahrscheinlich dröhnt und hallt jedes Geräusch in seinem Köpfchen und ist unangenehm. Wir wissen es nicht sicher.
Heute hatte der Pfleger wohl das Stationsradio eingeschaltet, allerdings steht es sehr weit entfernt von Martin. Morgen werden wir versuchen, ob ihm das kleine Radio in Kopfnähe etwas Freude und somit Abwechslung bringt.
Mir war fast den ganzen Tag übel heute, meine rechte Schulter schmerzt immer heftiger und obwohl ich weiß, dass Alles, was wir im Moment erleben, bittere Realität ist, kann ich es immer noch nicht so richtig glauben.
Am Abend haben wir Martin ein zweites Mal am Tag besucht, je näher wir zum KKH kamen, umso mehr drehte sich mein Magen wieder um. Keine Ahnung wie lange ich das Alles noch ertragen und aushalten kann. Wenn es Martin wieder besser geht, geht es auch mir wieder besser. Solange mein Kind sich so quälen muss, quäle ich mich auch. Es ist ein Automatismus in mir den ich nicht unterbrechen kann.
Wir wissen, dass Martin uns den ganzen Tag in seiner Nähe wissen möchte. Immer wieder erklären wir ihm, was mit ihm passiert ist, warum er auf dieser Station, so hilflos, liegen muss und warum wir ihn nur zweimal am Tag besuchen können
Wir sagen ihm ganz genau, wann wir wieder kommen und vor Allem, dass wir wieder kommen.
Sonntag, 24. Mai 2009
Das Aufstehen fällt mir immer schwerer. Irgendwie will ich nicht mehr aufwachen, aus diesem Alptraum, der immer noch kein wirkliches Ende in Sicht hat. Ich möchte mit diesem Traum verschwinden, ihn von Martin einfach wegnehmen können.
Nie im Leben hätte ich vermutet, dass einem meiner Kinder so ein großes, unabänderliches Leid widerfährt.
Aber etwas Positives ist heute geschehen, auch wenn es traurig ist.
Martin kann mit seiner Gesichtsmimik wieder zeigen, dass er weint. Er beginnt sich seiner Situation bewusster zu werden und hätte er nicht das Tracheostoma und wäre noch Herr seine Stimme, würde er nun laut weinen.
Die Schwester, die Martin am Vormittag versorgt hat, hat auch gespürt, dass Martin wieder Schmerzen und Unbehagen empfindet. Durch die lange Liegezeit und das stark angeknackste Immunsystem, hat er nun im Genitalbereich einen Hautpilz. Die Haut brennt beim Reinigen und er reagiert mit weit auf gerissenen Augen bei jeder Berührung darauf. Nun hoffen wir, dass die Heilsalbe die Haut in dem betroffenen Bereich etwas beruhigt und dass Martin weitere, kleine Fortschritte macht.
Vielleicht klappt es ja doch bald damit, dass er wieder alleine atmen kann. Wir können nur hoffen und unser Kind ermuntern mit zu arbeiten und es zu trösten.
Morgen vor dem Spätdienst, werde ich mein Kind wieder sehen und ihm hoffentlich etwas Hoffnung und Ruhe vermitteln können.
Montag, 25. Mai 2009
ein Brief von ganz lieben Freunden
Liebe Brigitte, lieber Jürgen!
Wünschen Euch Bärenkräfte und Geduld und Durchhaltevermögen und Optimismus und kleine Erfolgserlebnisse!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Wir denken an Euch und können uns sehr intensiv in Eure Situation hinein versetzen.
Martin und auch Euch als Familie wurde heute eine persönliche Fürbitte formuliert. Mein Freund (der Pfarrer, der uns getraut hat) hatte diese Idee und sie heute Nachmittag im Familiengottesdienst in die Tat umgesetzt. Ergänzend dazu kam dann meine Idee: Mit einem Beamer wurde das von mir eingescannte Foto von Martin, welches Du mir mal geschickt hast, an die Großleinwand gestrahlt. Somit sind nun ca. 500 Menschen, die Euch zwar nicht persönlich kennen, aber dennoch großen Anteil nahmen, mit Euch gedanklich verbunden. Ich glaube an die Macht der positiven Gedanken.
Ein kleiner Junge kam auf mich zu und sagte:
"Der Martin hat doch einen Schutzengel. Der passt gut auf ihn auf, damit er nicht so alleine ist in dem Krankenhaus, wenn sein Papa und seine Mama mal schlafen müssen". Vielleicht solltest Du an die Worte des Kleinen denken, sobald Du die ITS verlässt.
Einen lieben Drücker in Gedanken von
Rita und Andreas
Es ist gut zu wissen, dass so viele liebe Menschen für mein Kind beten und bitten. Unsere Kraft alleine reicht nicht aus um den Himmel zu bewegen, auch wenn wir noch so sehr darum bitten, dass für Martin wieder Alles gut wird.
Eine Welt ohne ihn kann ich mir nicht vorstellen und ich möchte, dass mein Kind wieder glücklich wird und mit seiner Kraft und Liebe noch lange weiter wirken kann. Er ist ein Engel auf Erden und wird so sehr gebraucht.
20.00 Uhr
Bei meinem Mittagbesuch hat mein Kind mich kurz angesehen und ist dann sofort wieder ein geschlafen. Endlich hatte die nette Schwester wieder Dienst in seinem Raum, die uns schon zu Anfang so positiv aufgefallen war.
Sie erzählte mir, dass sie auch gesehen hat, dass Martin weint, beim Waschen und Lagern, aber - er hat sie heute auch angeschaut und gelächelt. Ich wusste es, wenn er sie sieht und hört, fühlt Martin sich wohl.
Auch wenn es mir wegen der fast 40 Grad draußen heute nicht gut ging, ich bin beruhigter von der Station zu meiner Dienststelle gegangen.
Jürgen hat dann am Abend Martin auch nur schlafend angetroffen, aber er konnte erkennen, dass Martin wohl etwas Schönes geträumt haben muss.
Beginnt nun endlich ein erholsamer, gesunder Schlaf für mein Kind ? Ich bin mir sicher, Martin spürt jetzt auch im Schlaf unsere Berührungen.
Dass seit zwei Wochen ein Mädel in einem anderen Raum auf der Station liegt, auch mit einer Hirnblutung hatte ich so nebenbei mitbekommen. Heute Mittag habe ich vorm Fahrstuhl ihre Mama und ihren Bruder kennen gelernt. Auch wenn die Grundgeschichte eine Andere ist, haben unsere Kinder Vieles gemeinsam, und wir als Familien auch.
Ich hoffe, wir sehen uns wieder um uns gegenseitig Kraft und alles Gute für die Mäuse zu wünschen.
Dienstag, 26. Mai 2009
Zu früh gefreut. Ich könnte schreien vor Entsetzen. Jürgen hatte heute Morgen mit einem Arzt der ITS telefoniert, auch um die Telefonnummer des Neurologen zu erfragen, den wir Morgen sprechen wollen.
Am Telefon erfuhr mein Mann, dass Martin seit gestern Nacht wieder sediert werden musste, da er erneut anfing, heftig zu krampfen. Als wir heute Mittag an Martins Bett standen, wieder vor einem jungen Menschen, der weit weg ist, dachte ich, es zieht mir die Beine einfach so weg. Dabei hatte gestern eigentlich die Gesamtentwicklung so positiv auf uns gewirkt.
Bei Einkaufen traf Jürgen eine etwas ältere Bekannte. Vor kurzem haben wir die von ihr auf gegebene, sehr liebevoll formulierte, Todesanzeige für ihren Lebensgefährten gelesen, der schon seit Jahren schwer krank war. Heute erzählte sie meinem Mann, dass ihr Lebensgefährte sich erschossen hat. Was muss diese liebe Frau nun ertragen und aushalten? Es passiert so viel Trauriges und Schlimmes in unserer Wohngegend in der letzten Zeit, manchmal wirkt es auf mich, als ob die Menschen, die hier zu Hause sind, so nach und nach ausgerottet werden sollen.
Aber doch nicht mein Kind. Ich bin verzweifelt und fühle mich nur noch schlecht.
20.00 Uhr
Draußen tobte wieder ein heftiges Unwetter als wir am Abend zu unserem Kind gefahren sind.
Martin musste noch tiefer sediert werden. Da waren wir doch schon einmal, meine Güte. Wann gibt es endlich ein Rauskommen aus dieser Welt? Keine Ahnung, ob Martin spürt, wenn wir bei ihm sind. Ich glaube es fast nicht mehr. Durch diese Medikamente ist seine Haut im Gesicht wieder wie Leder und ganz bleich. Martin war immer ein so hübscher, junger Mann mit so viel Charme und Freude.
Morgen ist ein erneutes CT geplant. Wann genau konnte die Schwester nicht sagen. Besser, wir sollen vorher anrufen, ob Martin am Mittag schon wieder auf Station ist, damit wir nicht solange umsonst warten müssen.
Als wir gehen wollten, trafen wir im Fahrstuhl einen ehemaligen Nachbarn, der gerade glücklicher und stolzer Papa geworden ist. Unten in der Halle des KKH trafen wir die Mutter, des 7 jährigen Mädchen, das ein paar Räume weiter liegt als Martin. Die kleine Maus darf nun langsam wieder aufwachen. Ihre Mama leidet auch sehr, will in der Nähe ihres Kindes sein und sie weiß genau so wenig, wie wir, wie das Leben für ihr Kind weiter gehen wird.
Das Leben geht trotzdem weiter, immer weiter. Für uns steht es still, mal wieder.
Zur Belohnung oder als Trost müssen Jürgen und ich, uns ab und an ein Eis kaufen in der Cafeteria des KKH. Wie gerne würde ich meinem Sohn sein geliebtes Schoko und Nusseis mitbringen können. Ob er je wieder ein Eis genießen kann? Alles ist wieder so finster, genau wie der Himmel über uns im Moment.
Mittwoch, 27. Mai 2009
Wieder wurde die Narkose belassen. Immerhin ist der letzte Krampfanfall so unterbrochen. Morgen entscheidet der Neurologe, wann Martin wieder aufwachen darf. Jürgen hat um 11.30 Uhr einen Termin mit dem Boss der neurologischen Ambulanz.
Wir müssen wissen, was noch Alles möglich sein kann und wie Martin wieder, und, ob überhaupt, aus dieser Nummer raus geholt werden kann.
Martins Haut leidet inzwischen unter dem ewigen Liegen, auch wenn er wirklich, kontinuierlich, alle zwei Stunden gut und fachlich korrekt um gelagert wird, und trotz, dass Luft an alle Bereiche kommen kann.
Auch die Haut um seinen Po herum sieht nun nicht mehr gut aus. Erst der Genitalbereich, dann die Versen und nun der Po.
Eine ganze Stunde habe ich den Rücken meines tief schlafenden Kindes massiert und gestreichelt, in der Hoffnung, ihm etwas Gutes damit zu tun,
Ich muss mich so sehr zusammen reißen, nicht den ganzen Tag nur zu weinen. Körperlich geht es mir immer schlechter und ich habe ständig Angst, einfach um zu kippen. Mir ist schwindelig, ich habe Angst um mein Kind , meine Knie und die rechte Schulter schmerzen und immer wieder wünsche ich mir, dass Alles nur ein Traum war und dass es Martin gut geht und er fröhlich mit seinem E-Rolli in Markgröningen seine Runden auf dem Einrichtungsgelände dreht, wie vor dem Supergau auch. Dass es ihm einfach nur wieder gut geht.
So langsam weiß ich auch nicht mehr, wie ich erzählen soll, wie es Martin geht, wenn ich gefragt werde. Ich möchte nicht, dass meine beiden großen Kinder nur voll der Trauer sind, dass es einigen Mitarbeitern der Gruppe schlecht geht, ob wohl ich weiß, wie sehr Martins Trauerspiel auch Sie trifft.
Alle anderen müssen doch glücklich weiter leben dürfen. Martin würde es sicher auch nicht wollen, dass nun Alle weinen wegen ihm.
Nichts zu erzählen wäre nicht gut und die Dinge zu beschönigen auch nicht. Wir stehen immer noch zwischen den Welten, genauso, wie am 1. Mai.
Donnerstag, 28. Mai 2009
Heute Morgen war mir so übel wie noch nie. Auch Jürgen hatte den ganzen Vormittag Angst vor dem Gespräch mit dem Neurologen. Mir ging es so schlecht, dass Jürgen mich mit dem Auto zur Arbeit fahren musste. Immer wieder und immer mehr bekomme ich Panik vor den Menschen in der S-Bahn, an den Bahnhöfen und im Bus. Ich kann sie Allesamt im Moment nur schwer ertragen.
Die Kollegin, mit der ich heute Dienst hatte, hat netterweise eine Stunde meines Dienstes übernommen so dass auch ich an diesem Gespräch teilnehmen konnte. Jürgen und ich trafen uns auf der Ebene im KKH, vor den Büros der neurologischen Ambulanz.
Keine Menschenseele würde vermuten, dass Jürgen nicht Martins leiblicher Vater ist. So sehr setzt er sich für meine Kinder ein und ist Ihnen, ein lieber, verlässlicher Begleiter in den 12 Jahren unserer Beziehung und so sehr leidet er jetzt mit Martin und bangt um sein junges Leben.
Immer noch wundere ich mich, dass Martins leibliche Mutter nicht ein einziges Mal in über 22 Jahren nach diesem wunderbaren Jungen gefragt hat. Denkt sie wirklich nie an ihr Kind? Will sie wirklich nicht wissen, was aus ihrem Fleisch und Blut geworden ist? Sie hat diesem Kind das Leben gegeben. Ich kann es mir immer noch nicht vorstellen, dass man nicht an ein Kind denkt, auch wenn man es nicht selber aufziehen konnte, aus welchen Gründen auch immer.
Der Neurologe, ein angenehmer Mensch, dem es sichtlich nicht leicht fiel, uns diese Mitteilungen zu machen, hat uns nun klar gemacht, dass Martin, wenn er wieder aus diesem KKH entlassen wird, ein völliger Intensivpflegefall sein wird. Unabhängig mit unserer Trauer und unseren Gefühlen, müssen wir nun überlegen, wie wir die Mitarbeiter der Einrichtung am sinnvollsten darüber informieren.
Morgen wird die Narkose wieder raus genommen, eines der fünf Antiepileptika auch. Da Martins EEGs permanent Krampfaktivität zeigen, könnte es sein, dass dieses Geschehen einfach Standard ist in Martins linker Hirnhälfte. Man muss es ausprobieren. Die Nebenwirkungen der anderen Medikamente sind beachtlich, aber es gibt nicht mehr so viele Möglichkeiten. Es kann auch gut sein, dass es gar keine Möglichkeiten mehr gibt. Das Alles gehört zu den Dingen, die man auch mit Geld nicht kaufen kann.
Die Blutung hat sich aufgelöst, aber die Stelle des Geschehens, nun Narbengewebe, liegt so, dass Martins einst aktive Seite wohl nicht mehr so sein wird, wie sie war. Der Arzt hat uns die Aufnahmen des CT von gestern gezeigt und erklärt, wieder habe ich die Aufnahmen von Martins Köpfchen in meinem Kopf abgespeichert, direkt neben den Aufnahmen vom 1. Mai abgelegt.
Ein normales EEG wurde uns gezeigt und Martins EEG wurde uns gezeigt. Das, was in seiner linken Hirnhälfte abgeht kommt rein optisch einem Tornado gleich. Es ist einfach nur heftig und erschreckend.
Arbeiten in der Werkstatt und selber mit dem E-Rolli fahren, wird Martin wohl nicht mehr möglich sein. Martins Lebenserwartung ist nach dieser Episode erheblich gesunken.
Die erste Hürde nach dem Aufwachen wird in ca. einer Woche wieder das Atmen lernen werden. Ich hoffe wieder auf die nette Pflegekraft, die von Martin schon so nett angelächelt wurde. Sie hatte auch heute Dienst bei Martin und wir haben darüber diskutiert, wie es Martin vielleicht einfacher gemacht werden kann, wieder in die Eigenatmung zu springen.
Für uns war klar, wir können die Situation nur so annehmen, wie sie ist und wir müssen damit leben. Es gibt keine anderen Möglichkeiten für Martin. Das, was möglich ist, wird hier wirklich für unseren Sohn getan.
Wieder nur bleibt das Hoffen, auf eine akzeptable, liebevolle Zukunft für den kleinen Mausebär, solange er noch bei uns, in unserer Welt bleiben darf.
Für uns ist die nächste Hürde , dass unser Auto nicht groß genug ist, um Martin mit einem, dann notwendigen Pflegerollstuhl, den wir für ihn schon vor Jahren gekauft haben und der im Keller in Markgröningen steht, bequem transportieren zu können. Wir müssen es irgendwie schaffen, wieder einen Kleinbus zu bekommen, auch wenn wir im Moment wirklich nicht wissen, wie.
Unser Bus ist den Feinstaubplaketten zum Opfer gefallen, die er nicht mehr bekommen hat und nachrüsten war nicht mehr möglich. Es hat nur für den Berlingo ausgereicht, mit einbüßen von Jürgens Lebensversicherung. Der Laderaum ist einfach zu kurz und zu niedrig für einen größeren Rollstuhl. Mit einem alten Faltrolli und Haltegurten konnten wir uns bislang gut bewegen mit Martin und Steffi an Bord, aber mit dem Pflegerollstuhl wird es nicht mehr möglich sein, er ist einfach zu hoch und zu lang.
Dummerweise ist nun auch unser PC endlich ganz kaputt und wir haben nur noch, den von Ricky , glücklicherweise reparierten, Laptop, und hoffen, dass uns wenigstens diese Verbindung in die Welt noch eine Weile erhalten bleibt, bevor sie zusammenbricht.
Eines wollen wir auf keinen Fall, egal wie lange Martin noch leben darf, es soll ihm nie schlecht gehen müssen.
Unser Einsatz wird weiterhin bei unseren drei Kindern sein. Martin hat uns schon immer mehr gebraucht, jetzt braucht er uns halt noch intensiver. Für uns selber brauchen wir nicht so viel, das, was bleibt an Zeit und Möglichkeiten, sollen die Kinder bekommen, wenn es nötig wird.
Wieder hat Jürgen Martin heute die Nägel geschnitten und wieder wird Jürgen Martin am Samstag die Haare mit der Maschine schneiden.
Bislang haben wir vermieden, Betreuer der Gruppe oder Ricky, zu einem Besuch bei Martin mit zu nehmen, weil wir nicht wollten, dass sie sich dann ganz schlecht fühlen oder auch leiden. Nun müssen wir, wenn Martin wieder aufwacht und hoffentlich etwas fitter ist, das Risiko wohl eingehen in der Hoffnung, etwas von der aufkommenden Trauer auffangen zu können und dass sich Alle an den neuen, traurigen Martin gewöhnen können.
Wir wissen wie es uns geht, wenn wir die Station betreten, aber vielleicht kann es gut für Martin und seine Erinnerung sein, andere, bekannte Gesichter zu hören und bekannte Stimmen zu hören.