29. Mai bis 4. Juni 2009
Freitag, 29. Mai 2009
So eiskalt waren Martins Arme und Hände heute, und seine Lippen waren richtig blau. Was ist aus meinen Kind nur geworden in den letzten Wochen?
Als wir zu ihm kamen heute Mittage, wurde gerade wieder ein großes EEG geschrieben. Martin ist immer noch sehr weit weg getreten und auf der EEG Aufzeichnung sind, trotz immer noch vier Medikamenten, Krampfanzeichen zu sehen.
Hat mein Kind überhaupt noch eine Chance auf Leben und Lebensqualität? Wie um Himmels Willen wird es für meinen Jungen aussehen, wenn er wieder wach wird?
Wir können ihm gar Nichts abnehmen und ihn mit Nichts entlasten. Es ist nicht möglich, ihm die alte Gesundheit wieder zu kaufen.
Morgen Nachmittag, nach dem Besuch bei Martin, werden wir schweren Herzens Melli, der Gruppenleiterin der Wohngruppe, mitteilen müssen, was bei einer Rückkehr Martins auf sie zukommt.
Am liebsten würde ich meine hart erkämpfte Stelle sofort kündigen und Martin in seiner verbleibenden Zeit wieder selber versorgen. Leider können wir uns diesen Schritt nicht leisten, weil ich danach nie wieder eine Stelle finden würde in meinem Alter, und wir dummerweise in der Situation sind, auf mein Einkommen angewiesen zu sein. Es zeigt sich gerade jetzt wieder mehr wie deutlich, wie wichtig das bisschen Geld ist. Wir brauchen mehr Spritgeld und da ich kaum noch zu Hause bin und mich in der Küche betätige, ist auch die Lebensmittelversorgung für uns teurer geworden.
Ich bin so zwiegespalten und habe das Gefühl, es Martin einfach schuldig zu sein, ihn auf seinem letzten Weg begleiten zu müssen, ihn nicht alleine zu lassen. Gebe ich ihn mit diesen Gedanken etwa auf? Dabei bin ich es immer wieder, die Menschen bittet, ihre Angehörigen nicht auf zu geben, wenn sie z. B. einen Schlaganfall erlitten haben.
Sein Gehirn ist so zerstört und sein Körper leidet und wir wissen gar nicht, ob je wieder Freude in ihm entstehen kann, wenn er Nichts mehr selber machen und entscheiden kann.
Mein armes Kind. Sein Leben hat doch gerade erst angefangen und nun soll es schon zu Ende gehen? Wenn ich nur wüsste, was Martin jetzt selber will für sich.
Samstag, 30. Mai 2009
Inzwischen bin ich sehr empfindlich geworden. Ich spüre genau, wenn mich Jemand fragt, wie es geht, was Martin macht, ob die Fragen ernst gemeint sind. Es ärgert mich, weil es für mich unehrlich ist und für mich verletzend. Ich möchte so nicht mit Menschen umgehen müssen. Natürlich lasse ich es die Menschen nicht spüren, aber ich antworte dann einfach nur ganz kurz und ziemlich unverbindlich, gehe auf das Thema Wetter über und versuche den Kontakt zu beenden.
Floskeln und Worthülsen habe ich noch nie gemocht, und jetzt mag ich sie noch viel weniger.
Angst habe ich vor dem heutigen Tag, sehr viel Angst. Ich weiß nicht mehr, was wir uns wünschen sollen, welchen Weg Martin einschlagen soll in dieser, fast ausweglosen, Situation.
Martin war heute immer noch sediert, auch, weil ihm ein neuer Zentralvenenkatheder gelegt werden musste, auf der anderen Seite des Halses. Bislang saß der ZVK auf der rechten Seite und nun musste dringend gewechselt werden, weil eine so lange Verweilzeit ein Infektionsrisiko darstellt.
Ich bat die Pflegekraft darum, dass dieser Eingriff nicht von Personal zu Übungszwecken gemacht wird, sondern von diesbezüglich erfahrenen Fachkräften. Die junge Frau versprach es mir. Keine Ahnung, was sie dachte, als ich diese Bitte äußerte.
Allein der Gedanke, dass an meinem Kind, in diesem Zustand Jemand auch nur Irgendetwas übt, lässt mich erschaudern. Ich musste es, vor vielen Jahren, selber einmal an mir erleben, und damals ging es nur um eine normale Blutabnahme die ein junger Arzt im Praktikum nicht auf die Reihe gekriegt hatte. Nach dem 5. Einstich habe ich dann gebeten, sich ein anderes Opfer zu suchen und für mich nun Jemanden zu rufen, der es schon kann.
Das Haare schneiden heute ging gut, Jürgen bearbeitete erst die rechte Kopfhälfte, die auf dem Kissen lag, dann wurde Martin umgelagert und die linke Seite kam dran. Meine beiden Männer sind doch ein gut eingespieltes Team.
Bevor wir am Abend gingen, bekam Martin noch Antibiotika und ein Fieber senkendes Mittel, da er wieder über 39 Grad fieberte.
Wieder hoffen wir auf einen besseren, neuen Tag für Martin.
In der Gruppe wird morgen gegrillt. Steffi freut sich darauf, hat sie uns heute erzählt. Sie will helfen. Wie gerne futtert Martin Grillwürstchen mit Senf. Er wird fehlen, so sehr fehlen. Ich habe Sehnsucht nach meinem Kind und seiner verlorenen Vitalität.
Sonntag, 31. Mai 2009 – Pfingsten
Überall sind die Gottesdienste, die Pfingstfeste und Feierlichkeiten in vollem Gange, die Menschen sind guter Dinge. Jürgens Bruder und seine Schwägerin feiern silberne Hochzeit, in unserem Bekanntenkreis sind besonders im Juni viele Geburtstage.
Wir haben keine Einladungen mehr angenommen, angekündigte Besuche abgesagt und wollen auch in diesem Jahr keine Sommergäste einladen. Uns fehlen die Zeit und die Kraft zu Geselligkeiten.
Arbeiten und Besuche im Krankenhaus bei Martin, zu mehr reicht es einfach nicht mehr. Sogar die dienstlichen Fortbildungen, die mir ansonsten sehr am Herzen liegen habe ich abgesagt, mich nicht angemeldet für neue Termine.
Wir teilen uns wieder den Tag auf. Mittags zu Martin ins KKH, Nachmittags zu Steffi, abends wieder zu Martin ins KKH und schwups, an einigen Tagen in der Woche besuche ich noch den alten Herrn, ist der Tag wieder vorbei und wir sind erschöpft und traurig und haben das Gefühl, absolut Nichts geleistet zu haben.
Wenn nur der Tag nicht wieder so unangenehm heiß wird.
Welche Eindrücke müssen wir heute mit nach Hause nehmen? Gibt es hoffentlich wieder einen kleinen Lichtblick für Martin und uns? Wie lange noch?
Was passiert mit unserem Kind, wenn wir nicht an seiner Seite sind? Jede Minute, die wir nicht an Martins Seite sind, plagt uns schlechtes Gewissen.
20.00 Uhr
Ein Narkosemittel läuft immer noch. Martin kann die Augen ein Wenig öffnen, sie fallen aber schnell wieder zu.
Wir gehen davon aus, dass er bei unseren beiden Besuchen heute, mit bekommen hat, dass wir da sind und er hat uns auch sicher erkannt.
Damit Martin unsere Stimmen hören kann, unterhalten Jürgen und ich uns über belanglose Dinge an seinem Bett, lachen hin und wieder, sprechen zu Martin, erzählen ihm von dem Tag und was es Neues aus der Gruppe gibt. Er soll einfach unsere Stimmen aufnehmen können, zwischen den Geräuschen der Station soll er nicht vergessen müssen, dass es auch noch ein anderes Leben gibt, draussen.
Berühren, streicheln, einfach nur seine Hände halten, um Martin spüren zu lassen, wir sind ihm nah, lieben ihn, jeden Tag noch ein bisschen mehr.
Als wir uns am Abend verabschiedet haben, schon zehn Minuten, bevor wir gehen wollten, Martin darauf einstimmen wollten, gingen seine Augen weiter auf und er sah uns traurig an. Ganz klar, sein Gehirn ist wieder soweit wach, dass er verstehen und sich uns gegenüber äußern kann mit Blicken.
Wie traurig ist das mit an zu sehen. Martin, einst die Lebensfreude pur, der Sonnenschein für viele Menschen ist im Moment nur noch ein kleiner, trauriger, kraftloser Sonnenstrahl, der nicht mehr blinken kann.
In ein paar Stunden liegt mein Kind einen ganzen, langen, traurigen Monat auf der ITS, die ganze Zeit über steht sein Bett an der gleichen Stelle.
Was wird kommen, wenn diese Narkose nun wieder ganz raus genommen wird. Schon einmal waren wir soweit und dann kam der Rückschritt.
Die Gruppe ist nun von uns informiert und kann sich darauf einstellen, dass, wenn Martin zurückkommen sollte, Alles anders sein wird mit ihm und für ihn.
Wir sind uns immer noch nicht sicher, ob er es schaffen wird. Sein Gehirn und sein Herz haben sicherlich in den letzten 4 ½ Wochen so viel geleistet, wie das Gehirn und das Herz eines 80 jährigen Menschen in seinem ganzen Leben.
Wieder warten auf den nächsten Tag, beten, bitten, hoffen.
Uns darf im Moment Niemand mehr fragen, wie es uns geht. Mir kommen sofort die Tränen und Jürgen kann nicht viel sagen, das ist wohl das, was man nennt, sprachlos zu sein.
Bitte alle Mächte des Universums, lasst mein Kind am Leben und lasst es ihm wieder gut gehen. Lasst dieses Drama ein gutes Ende nehmen.
Pfingstmontag, 1. Juni 2009
Die Worte des Neuropädiaters, von vor vielen Jahren, als mein Mausebärchen noch klein war, dringen in meinem Kopf wieder in den Vordergrund.
Irgendwann stirbt so ein Mensch an so einem Anfall und dann ist es Niemandes Schuld. In den meisten Fällen überleben solche Kinder die Pubertät nicht.
Martin hat gerade erst die Pubertät überstanden. Ziemlich spät hat er damit begonnen, aber er müsste nun durch sein, mit dem körperlichen erwachsen werden. Oder ist es doch eine Reaktion seines Körpers und seines Gehirns auf die Hormonveränderungen?
Ein Arzt, dem Jürgen diese Frage stellte, meinte zwar, nein, aber wir wissen doch noch lange nicht Alles über den Menschen und seine Chemie.
Käme Martin heute, mit 17 Lebensmonaten zu mir, würde mit Sicherheit auch eine Humangenetische Untersuchung gemacht. Martin ist nie sehr groß und kräftig geworden, hat immer ein glockenhelles Stimmchen und seine Gesichtszüge wirken noch immer kindlich. Seine Haut ist am Körper dünn und durchsichtig, manchmal etwas marmoriert. Vielleicht besteht eine genetische Fehlentwicklung, die Einfluss auf das traurige Geschehen hat? Zu ändern wäre aber auch mit diesem Wissen jetzt und heute nichts mehr.
Heute Mittag lief noch immer eine Narkose. Martin konnte uns erkennen, aber nicht reagieren. Nur wieder, als wir uns bis zum Abend verabschiedet haben, war zu spüren, es gefällt ihm nicht, was wir zum ihm gesagt haben. Es tut weh, so sehr gebraucht zu werden in einer völlig fremd bestimmten Welt.
In der Nacht, so berichtete uns die Schwester, wurde Martins Beatmungsgerät, einmal für zwei Stunden und einmal für eine Stunde ausgeschaltet. Unter der Narkose hat er es geschafft, eigenständig zu atmen.
Nun läuft das Gerät wieder und wir hoffen, Martin findet seinen Weg und die Kraft, in den nächsten Tagen gänzlich ohne Hilfe, wieder eigenständig atmen zu können.
20.00 Uhr
Am Abend war das Beatmungsgerät wieder ausgestellt. Die Zeit über, die wir bei Martin waren, hat er ganz alleine geschnauft. Es strengt ihn aber wahnsinnig an und ich denke, er hat auch Angst, weil er es nach einem ganzen Monat Maschine nicht mehr gewohnt ist, alleine zu atmen und gerät deshalb in Stress.
Der Hämoglobinwert ist recht niedrig und so bekommt Martin heute Abend noch zwei Bluteinheiten angehängt, die auch schon geliefert wurden, als wir noch da waren. Mit den BEs kann Martin vielleicht besser atmen, da der Sauerstofftransport in Martins Blutwegen dann wieder effektiver ist.
0 positiv ist Martins Blutgruppe. Die erste, bekannt gewordene Blutgruppe überhaupt, ein Relikt aus der Steinzeit, Blutgruppe 0.
Wir haben keine Ahnung, wie viel Blut Martin jeden Tag abgenommen werden muss, aber es ist sicher keine unerhebliche Menge. Wie schnell Martins Organe nach produzieren können, wissen wir auch nicht. Nun wird der Speicher wieder aufgefüllt und wir bedanken uns bei dem Spender. Sein Blut hilft meinem Kind zu leben.
Für einen kurzen Moment hat uns Martin wieder gezeigt, dass er weint. Wahrscheinlich hat ihn das lange und laute Gepiepe des Gerätes, über das Martins Nahrung läuft, als die Flasche leer war, genervt. Es kann gut sein, dass Martin zurzeit sehr geräuschempfindlich ist. Er hat ja den ganzen Tag keine schönen, angenehmen akustischen Eindrücke.
Wieder haben uns Martins Augen beim Abschied gesagt, dass er es nicht okay findet, wenn wir schon wieder gehen. Mein armer Hase. Hoffentlich kann er bald auf eine andere Station und hoffentlich kommt nicht wieder etwas Negatives nach. Martin hat genug gelitten, für mindestens 50 Andere Lebewesen mit.
Dienstag, 2. Juni 2009
Wieder spüre ich Angst in mir. Ich möchte so gerne wieder vertrauen können in Martins Gesundheit, ihn wieder los lassen können, wissen, dass es ihm gut geht.
Täglich fällt es mir schwerer das KKH zu betreten. 5 1/2 Wochen nun, Tag für Tag, sehr oft 2x täglich. Ich spüre meine Kräfte schwinden und wünsche mir einfach ein paar Tage zu Hause bleiben zu können. Kein KKH, keine Arbeit- einfach nur Ruhe, faul und relaxend im Garten sitzen und träumen, von guten Zeiten, die wir hatten.
Ich kann es Martin nicht antun, nicht zu kommen. Wenigstens die paar Stunden soll er vertraute Gesichter sehen und bekannte Stimmen hören. Er ist so entsetzlich ausgeliefert in seiner Situation.
Hoffentlich sind alle Pflegekräfte nett zu ihm und behandeln ihn mehr wie ein Kind, mit etwas mehr netter Zuwendung, damit er sich wenigstens ein paar kurze Momente etwas wohler fühlen kann.
20.00 Uhr
Heute hatte ich das Gefühl, Martin hat mich zwar bemerkt, aber er hatte erst, als Jürgen und ich dann abends gehen wollten, die Augen wieder weit aufgerissen.
Ich saß fast vier Stunden bei ihm und hatte nicht das Gefühl, er nimmt mich wahr. Die Augen gingen zwar hinterher, wenn eine Pflegekraft vorbei ging, aber er hat Niemanden und Nichts fixiert.
Mir geht es hundeelend, immer mehr. Ich habe nun richtig Angst, irgendwann einfach zusammen zu klappen, irgendwo, und das will ich nicht. Ich weiß aber nicht mehr, wie ich mir selber helfen soll.
Meine Kraft scheint immer mehr abhanden zu kommen.
Mittwoch, 3. Juni 2009
Ein kleiner Lichtblick scheint sich wieder auf zu tun.
Als ich nach der Frühschicht bei Martin ankam, hatte er die Augen ganz weit auf und sah mir richtig ins Gesicht.
Er habe Schmerzen an den Beinen, ließ mich die Schwester wissen. Wundert mich nicht wirklich, nach der langen Liegezeit. Aber es tut mir leid, dass Martin sich jetzt auch noch damit quälen muss.
Ein neues EEG wurde geschrieben. Es zeigt wohl immer noch Krampfaktivität. Aber vielleicht trifft es wirklich zu, dass Martin vielleicht sein ganzes Leben lang ein Gewitter im Köpfle mit sich rum getragen hat, ohne dass es äußerlich sichtbar war. Das Fieber ist gesunken, auf 37,5 Grad.
Ich will nun hoffen und glauben, dass es endlich, endlich vorwärts geht für den kleinen Mausebär.
Bin sehr gespannt, wie er am Freitag darauf reagiert, wenn Ricky ihn besucht. Ich hoffe so sehr, dass er seinen großen Bruder erkennt. Ich werde Martin nichts von dem Überraschungsbesuch erzählen umsehen zu können, wie es mit seiner Erinnerung ist.
Für meinen großen Sohn hoffe ich, dass er gut mit der Situation und dem Besuch auf einer ITS klar kommt. Eine Stütze kann ich ihm nicht sein. Mir geht es selber grottenschlecht inzwischen. Und Martin nun so zu erleben, wenn man ihn voller Aktivität gekannt hat, ist harter Tobak für die Seele.
Als ich nach zwei Stunden meinem Kleinen angekündigt habe, dass ich nun erst mal nach Hause fahre und später mit Papa wieder komme, wurde ich wieder traurig angesehen. Ich musste sowieso die Station verlassen, weil die Frau, die seit zwei Wochen neben Martin liegt, wohl verlegt werden sollte und dafür vorbereitet werden musste. So passte es gerade mit den Abfahrtszeiten von Bus und S-Bahn.
Im Bus kamen mir dann die Tränen. Ich möchte Martin endlich raus holen können, aus diesem Alptraum, der schon viel zu lange dauert.
20.00 Uhr
Martin zeigt sichtlich Zeichen von Unmut bei der Mundpflege, dem Waschen und Lagern. Aber auch Positives ist aus seinem Gesicht zu lesen. Eine nette Krankenschwester wurde leicht angelächelt und als Jürgen und ich am Abend kamen, war es auch ein erfreuter Gesichtsausdruck, der uns empfing. Natürlich dann auch ein beleidigter Gesichtsausdruck, als wir wieder gingen.
Wieder hatte Martin zwei gute Stunden geschafft, bei ausgeschaltetem Beatmungsgerät. Stück für Stück kommt er anscheinend wieder zu sich.
Das Traurigste im Moment ist, dass er seinen linken Arm und seinen Kopf nicht mehr bewegen kann. Sein linker Arm hängt völlig schlaff an seiner Schulter. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, wie der arme Junge sich fühlen wird, wenn er so richtig realisiert, dass er bewegungslos ist. Dass er nichts mehr greifen und ergreifen kann, dass er seinen Rolli nicht mehr fahren kann, dass er nicht mehr arbeiten gehen kann. Dass er nicht einmal mehr Blödsinn machen kann.
Auch wenn uns der Neurologe klipp und klar gesagt und gezeigt hat, was Alles nicht mehr funktionieren wird, ich hoffe immer noch, dass die Narbe ins Martins Köpfchen noch ein wenig abschwillt und vielleicht doch ein bisschen Bewegung möglich wird. Wir sind doch sehr bescheiden geworden, nur ein bisschen die linke Hand bewegen können, wäre schon so viel.
Bei den meisten Pflegekräften der ITS ist Martin inzwischen sicher der Liebling der Station. Sie haben die Infos über Martin gelesen und die Fotos angesehen. Sie sehen den Martin, der er vor dem 1.Mai war. Mein Einsatz hatte Erfolg, mein Kind wird nicht einfach reduziert auf seine Reste. Inzwischen reden wir mit allen Pflegekräften, sie sind uns auch ans Herz gewachsen in den langen Wochen.
Ich könnte ihren Job nie machen, habe allerhöchste Hochachtung vor ihrer Kraft und Stärke und bete, dass sie bei all dieser seelischen Belastung gesund bleiben dürfen.
Donnerstag 4. Juni 2009
Weinen, viel weinen kommt von meinem Kind heute.
Er erkennt seine Situation so langsam, trauert, will nicht, dass wir/ich gehen und wir wissen nicht mehr, wie wir Alles auffangen können und sollen.
Ich schaffe es einfach nicht, zusätzlich zur Arbeit, noch mehr wie 4-5 Stunden bei Martin zu sitzen. Auch wenn wir unsere Zeit gerne für Martin einsetzen, wir müssen die Station wieder verlassen können, wenn wir merken, wir können es nicht mehr ertragen.
Aber das Atmen klappt wenigstens immer besser und ich hoffe, dass nicht wieder etwas dazwischen kommt. Bloß keine Rückfälle mehr bitte, ich weiß nicht, wie Martin, wie wir, das noch ertragen könnten.
Martin entwickelt auch wieder ein wenig seinen eigenen Willen. Mund und Zahnpflege, ein von je her leidiges Thema für meinen Mausebär, nur mit sehr viel Zureden und ein wenig tricksen, lockert er seinen Kiefer und lässt mit angewiderten Gesichtsausdruck, das Geschehen, was sein muss.
Die junge Schwester hat sich sehr viel Mühe gegeben und sich Martin voll und ganz zugewendet bei dieser Aktion. Das so mit zu erleben hat mir gut getan.
Menschlichkeit zu spüren in der Ausweglosigkeit ist wie streicheln der Seele.
So manches Mal würde ich gerne einer der Schwestern in den Arm nehmen, wenn ich spüre, dass auch sie ein Stück mit leiden. Wir sind Menschen und können nicht immer die Gefühle ausblenden und auf eine neutrale Ebene packen. Ich kann das auch nicht, aber ich erlaube mir, auch mit meinen Gefühlen, Mensch zu bleiben. Es kann doch nicht verkehrt sein, wenn man Menschen spüren lässt, dass man sie wahr nimmt in ihrer Befindlichkeit und verstehen kann.
Man kann nicht immer gesund sein und es kann nicht jeder Tag ein guter Tag sein, aber das, was mit Martin geschehen ist, hat eine ganz andere Ebene und Gewichtigkeit.
Heute bin ich so kraftlos, wie noch nie in den letzten, traurigen Wochen. Es ist noch keine 21 Uhr, aber ich muss ins Bett gehen. Ich kann einfach nicht mehr.