5. Juni bis 11. Juni 2009
Freitag, 5. Juni 2009
Und wieder ist ein neuer Patient in Martins Zimmer geschoben worden. Wieder auf der Grenze zwischen Himmel und Erde und dies sehr heftig. Wie oft noch müssen wir das erleben? Und nun bekommt Martin das ganze Drumherum der Station auch bewusster mit. Wie kann der arme Junge nur seine Angst ertragen und diese Eindrücke verarbeiten?
Es quält mich so sehr, ihn so oft und lange alleine lassen zu müssen. Auf einer anderen Station könnten wir mehr Leute mit einbeziehen, die Martin besuchen können und ich könnte an freien Tagen gleich am Morgen zu meinem Kind fahren.
Jeden Tag bete ich, dass die Pflegekräfte, die Martin gegenüber ganz offen sind, ihren Diensteinsatz bei ihm haben. So gibt es wenigstens ein bisschen mehr Zuwendung und Ansprache in diesem grauen, hilflosen Alltag für meinen Sohn.
Von Anfang an hätte ich mir gewünscht, dass auch die Ärzte offen und direkt auf die Patienten zugehen, dass auch die Angehörigen angesprochen und informiert werden, ohne, dass erst um ein Gespräch gebeten werden muss oder ein Termin vereinbart werden muss. Sind Ärzte hier denn andere Menschen? Spüren sie nicht, welche Wellen hier auf dieser Station mitschwingen?
Jeder Mensch, Der von außen hier, auf diese Station kommt, hat Angst und bräuchte Hilfe und Trost. Nicht nur die bedauernswerten Patienten.
Gestern hat mich im Vorbeigehen ein junger Arzt tatsächlich mit meinem Namen begrüßt. Das erste Mal, seit dem 1.Mai. Wie habe ich mich darüber gefreut und doch war ich verwundert, über eigentlich, eine Selbstverständlichkeit.
20.00 Uhr
Meine Vorgesetzte hat mich heute zwei Stunden früher gehen lassen, so dass ich zu Hause auf Ricky warten konnte. Um ihn habe ich immer solche Angst, wenn ich weiß, er muss so weite Strecken fahren. Heute habe ich für meine beiden Jungs verstärkt gebetet.
Wie hat Martin sich gefreut, Ricky zu sehen, und wie schön war es, zu sehen, dass er seinen großen Bruder erkennen, sich erinnern kann. Für Ricky war es ein schmerzvoller Besuch bei dem kleinen Bruder und es sind viele Tränen der Trauer geflossen. Wären nur nicht so viele Kilometer zwischen uns, wir können nicht einfach da sein, wenn wir uns brauchen. Ich vermisse meine Kinder so oft und habe ständig Angst um sie. Manchmal denke ich, diese Gefühle sind nicht normal.
Martin hat sehr viel geweint heute Nachmittag. Er wollte so seinem großen Bruder Ricky sein Leid und Elend vermitteln. Immer deutlicher spürt er die Veränderung, dass er körperlich gar nichts mehr machen kann. Welch ein Schmerz lastet auf seinem jungen Leben und somit auch in uns.
Die Schwester erzählte uns, dass am Wochenende aus ärztlicher Sicht entschieden werden soll, ob Martin schon in der nächsten Woche auf eine andere Station verlegt werden kann. Das Atmen ginge jetzt super, bis er heute Nachmittag anscheinend in einen Streßzustand kam und das Beatmungsgerät wieder brauchte. Blutdruck, Herzfrequenz gingen hoch und ich bete, dass sich dieser Zustand ganz schnell wieder legt und kein lebensbeschneidender Dauerzustand wird.
Samstag, 6. Juni 2009
Heute habe ich wieder geteilten Dienst und ich muss darum kämpfen, den Tag halbwegs gut zu überstehen. Schon am frühen Morgen laufen mir Tränen über das Gesicht. Ich kann sie nicht mehr immer zurück halten.
Mir ist übel, schwindelig, ich habe Kopfweh, vermisse meine drei Kinder so sehr. Will sie beschützen und doch ist es mir nicht mehr möglich.
Jürgen fährt mich zur Arbeit am frühen Morgen, ich habe Angst mit der S-Bahn zu fahren, immer noch und wieder kommen diese Gefühle, dass ich einfach umkippen könnte.
Als ich vor dem Haus meiner Arbeitsstelle aus dem Auto aussteige, regnet es und über mir und um mich herum ist Vogelgezwitscher und das Gurren der Stadttauben zu hören. Noch ist die Stadt ruhig am Samstagmorgen und ich genieße für einen kurzen Moment den Tagesanfang und lasse ihn auf mich wirken.
Ein paar Straßen weiter liegt mein unglückliches Kind, ich kann es spüren, ganz deutlich spüren in mir.
So nach und nach habe ich ein paar Kuscheltiere und ein buntes Tuch mit auf die Station gebracht, damit Martin wenigstens etwas Vertrautes in seiner Nähe findet. Seit drei Tagen sitzt auch Nils, eine unserer großen Therapiepuppen, mit auf Martins Bett, in der Hoffnung, die eine oder andere liebe Pflegekraft nimmt sich die Zeit, um Martin mit Nils etwas auf zu heitern. Diese Puppen kann man nicht einfach so kaufen, man muss sie adoptieren, und ich liebe diese Puppen, die mir schon öfters geholfen haben, Kontakt zu Menschen auf zu bauen, die etwas mehr brauchen, als nur die menschliche Ansprache.
Gestern, als Ricky so sehr weinen musste, gab ihm eine Schwester sogar Taschentücher und hat mit ihrer Hand, tröstend seine Schulter berührt. Ich war so dankbar für diese liebe Geste.
Es tat so weh, meine beiden Jungs weinen zu sehen und den Grund dafür nicht mehr korrigieren und ändern zu können.
Das Weltall steht uns offen, wir erforschen fremde Galaxien, aber an den Auswirkungen dieser einen Hirnblutung ist nichts zu machen. Das darf doch Alles nicht wahr sein.
Gäbe es die Apparatemedizin und die Narkosemittel nicht, wäre Martin schon nicht mehr am Leben. Nun muss er ein Leben ohne Bewegung führen und Alles wird nur noch fremd bestimmt. Ich bezweifle, dass es ein gutes Leben sein wird.
Ich würde es nicht wollen für mich, auf keinen Fall.
Und was passiert, wenn Martin gar nicht mehr von dem Beatmungsgerät los kommt, wenn er verständlicherweise immer wieder so sehr in Stress gerät, wie gestern Nachmittag?
Wie viele Stunden wir/ich inzwischen im Warteraum der Station verbracht haben, bis wir das Okay bekamen, an Martins Bett treten zu dürfen und wie oft wurden wir wieder raus geschickt???
Seit dem 29.4.09 ist das KKH und Martin unser ausschließlicher Lebensmittelpunkt und trotzdem haben wir immer das Gefühl, nicht genug zu tun und trotzdem sind wir ausgelaugt und erschöpft.
Heute werde ich meine lange Mittagspause wieder bei Martin verbringen und Jürgen kommt, wenn ich gerade gegangen bin zu Martin.
Wie schwer es mir doch inzwischen fällt, abschalten zu können, mich um zu stellen auf das Haus und die Bewohner, meine Dienststelle. Auch hier im Haus gibt es immer wieder traurige Situationen und sie treffen mich immer mehr.
Martin wird nach der Entlassung einen anderen Rollstuhl brauchen. Unsere eigenen Pflegerollstühle können nur einen Übergangslösung sein, da sie nicht 100% passend sind für Martins veränderte Situation und mir graut schon jetzt wieder vor den Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse. Ich bin dieses unsinnige Theater so leid, das auf dem Rücken hilfloser Menschen ausgetragen wird.
Drogenabhängige, Alkoholiker bekommen ein Leben lang Substitution und Therapien, Komasaufen kostet die Kassen Unsummen und ist selbst verschuldet, und Martin? Der so gar nichts für seine Situation konnte und kann?
Zurzeit ist auch keine Kopf und Rumpfkontrolle möglich und diesbezüglich turnen, geht wegen der Kanüle und der damit verbundenen Empfindlichkeit nicht und ob es überhaupt wieder klappt steht in den Sternen. Alles ist so anders geworden und so bitter.
Seit Wochen habe ich keine Zeit mehr zum Friseur zu gehen, heute war die Hausfriseuse für unsere Bewohner im Haus und ich konnte mich dazwischen mogeln, nur um ein bisschen die Frisur wieder in Form gebracht zu kriegen, durch ein paar gekonnte Scherenschnitte. Keine Zeit mehr, egal wie lange der Tag ist, wir haben keine Zeit mehr. Kraft und Zeit genügen nicht mehr, für ein normales, bescheidenes Leben.
Ich muss ständig darüber nachdenken was Martin in der Zeit der Narkosen mit bekommen haben mag. Wir waren sehr oft bei ihm, immer in der Hoffnung, er spürt uns und unsere Liebe und dass wir ihn nicht im Stich lassen werden. Hatte er Alpträume oder schöne Träume? Konnte er mit seinen Gedanken seine Träume beeinflussen? Hat es ihm wehgetan und Angst gemacht?
20.00 Uhr
Mein Hase saß in einer Art Rollstuhlbett als ich zu ihm kam. Es war ihm sichtlich unangenehm, was er mir sofort mit einem weinenden Gesicht mitteilen wollte. Aber er muss sich auch daran wieder gewöhnen, nicht nur im Bett zu liegen. Alle Muskeln schmerzen, müssen auch erst wieder lernen, zu leben. Voita wäre jetzt gut, denke ich. Aber KG im KKH ist nur eine absolute Limit Versorgung, leider.
Martin hat es fast fünf Stunden geschafft, in dieser Sitzposition aus zu halten, danach war er völlig erschöpft, brauchte nach dem Umlagern wieder Beatmung und schlief sofort ein.
Eine Stunde saß ich noch neben meinem schlafenden Kind, dann bin ich leise gegangen. In der Cafeteria des KKH habe ich mir ein Zitroneneis gekauft, mich noch zehn Minuten vor dem KKH auf einem Stuhl der weißen Sitzgruppe gesetzt zum Entspannen.
Gesprächsfetzen drangen von Besuchern zu mir, sie schimpften über die Pflegekräfte, wie gleichgültig diese seien und nie da. Denkt denn Niemand darüber nach, was eine Pflegekraft unter der heutigen Personalpolitik aus zu stehen hat? Wieso wird immer das Negative zuerst wahrgenommen?
Jürgen bekam erst mal einen tüchtigen Schreck, als er kam, weil er dachte, Martin sei wieder in Narkose als er den tiefschlafenden Jungen gesehen hat. Das hatten wir ja leider schon.
Nun ist Martin ein sogenannter Joker. Wenn sein Platz auf der ITS gebraucht wird, kommt er auf die neurologische Station und wir bitten und beten, dass er es schafft, ohne Beatmungsgerät. Er muss auch endlich zur Ruhe kommen können, das geht auf dieser traurigen Station nicht. Die Nebengeräusche alleine sind erschreckend und immer da. Martin bekommt Alles um sich herum mit und es macht ihm Angst. Es ist schon für uns heftig und wir gehen wieder, nach ein paar Stunden Aufenthalt, Martin ist dem Allem ausgeliefert.
Nun ist seit drei Tagen in einem Raum auf der Station ein Mann, der den ganzen Tag durchgängig ganz laut stöhnt und Martin reagiert darauf mit ängstlichem Blick. Ich denke auch, er spürt das Elend der anderen Patienten. Martin war schon immer sehr sensibel.
Sonntag, 7. Juni 2009 - Tag der Europawahlen
Nun ist die Verantwortung, die wir für die Kinder haben, noch größer geworden und ich bin mir im Moment nicht sicher, ob wir diese Verantwortung noch in vollem Umfange und immer richtig, überhaupt noch tragen können. Es werden so viele Entscheidungen zu treffen sein und es wird nie ein Ende habe. Haben wir genügend Kraft für die ungewisse Zukunft? Erkennen wir immer, was richtig ist und gut für Martin?
Kann Martin überhaupt den Willen entwickeln auf eine Lebenserhaltung mit dem Bewusstsein auf seine schrecklichen Einschränkungen?
Inzwischen bekommt er nur noch Keppra und Luminal. Seit die Narkosemittel raus genommen sind, braucht Martin auch kein Insulin mehr. Phasenweise bekommt er Schmerzmittel dazu. Dem armen Jungen muss absolut Alles wehtun, was er an seinem Körper noch spüren kann.
Nach der Verlegung soll eine Logopädin kommen und testen, ob und wie Martin noch schlucken kann. Wenn er liegt und schläft habe ich schon ab und an gesehen, dass er geschluckt hat, aber im Moment schluckt er seinen Speichel nicht mehr. Es ist auch nicht zu erkennen, ob er wirklich richtig schluckt.
Ansonsten ist von therapeutischer Seite im KKH nicht viel zu erwarten, es ist nicht vorgesehen im Ablauf.
Die Nasensonde stört Martin, das kann ich erkennen, wir wissen nicht, ob wir so schnell dem Legen einer PEG Ernährungssonde zustimmen sollen, falls wir gefragt werden. Vielleicht kann Martin das Schlucken und Kauen ja doch wieder richtig erlernen.
Die Pflegekräfte der ITS fragen uns in letzter Zeit oft, wie es uns nun geht. Solange kommen wir nun schon täglich auf diese Station. Oft früher, als die üblichen Besuchszeiten es erlauben und wenn es möglich ist, dürfen wir dann auch zu Martin gehen, der inzwischen sehr auf uns wartet.
Für mich würde es sich nicht lohnen, nach dem Frühdienst nach Hause zu fahren und so gehe ich direkt zu meinem Kind.
Es ist bedauerlich, dass es nicht wenigstens auf der ITS Einzelzimmer gibt. Schon alleine, um die Patienten zu schonen und zum anderen, den Angehörigen zu ermöglichen, rund um die Uhr, wenn sie es wollen, bei ihren Lieben sein zu können. Ja ich weiß, dass ist wieder Wunschdenken, wie schon so oft, und nur den Wohlhabenden, zu Denen wir nicht gehören, vorbehalten.
19.30 Uhr
Wieder hat Martin vier Stunden in Sitzhaltung ausgehalten. Danach war er wieder so geschafft, dass er 2 ½ Stunden tief und fest geschlafen hat, nach dem Umlagern in sein Bett.
Wir haben gespürt, dass er uns im Moment nicht braucht und sind für drei Stunden wieder nach Hause gefahren, um Etwas ab zu schalten und die Beine ein Stündchen hoch zu legen.
Steffi haben wir heute Mittag kurz besucht, es geht ihr wohl wieder besser, aber wir wissen nicht, wie sie darauf reagieren wird, wenn sie erkennt, dass Martin nicht mehr reagieren kann, wie früher, außer, sie vielleicht ansatzweise an zu lächeln.
Unser aller Leben hat sich verändert und wir müssen erst lernen, wieder fröhlich und unbefangen sein zu können. Zur Zeit trägt uns eine tiefe Trauer und sehr große Angst, dass es Martin nicht mehr gelingen wird, sich in irgendeiner Form wieder wohl fühl zu können.
Es ist ein so trauriges Bild, wie hilflos, haltlos, traurig und ohne wirkliche Perspektive unser Liebling seine Tage verbringen muss.
Er wird in der kommenden Woche definitiv verlegt, auf eine Station, die auf keinen Fall personell die Ausstattung hat, die Menschen wie Martin gerecht wird.
Jürgens letzte Urlaubstage werden nun auch noch für Martin eingesetzt, damit wir es irgendwie schaffen, ihm über die Tage zu helfen und wir können nur hoffen, dass er genug Kraft in sich hat, sich selber so an nehmen zu können, völlig hilflos, wie er nun geworden ist.
Über liebe Besuche freut Martin sich sicherlich, aber es sollte immer nur eine Person sein, da er nur mit einer Person Kontakt aufnehmen kann über die Augen.
Nach dem KKH wird er als Intensivpflegefall in die Gruppe zurückkehren, mit einem sehr hohen Betreuungsaufwand. Wir werden versuchen, unsere Zeit mit Martin zu teilen, müssen aber selber auf uns aufpassen, damit wir nicht krank werden und uns selber überfordern.
Der Einrichtung empfehle ich, einen Veränderungsantrag auf Pflegestufe 3+ zu stellen, um etwas mehr personellen Spielraum zu ermöglichen. So wie bislang die Planung war, wird es nicht mehr funktionieren können. Es war eh schon immer knapp am Limit.
Um Martin nicht noch mehr Angst/ Stresssituationen aus zu setzen, werden wir im KKH darum bitten, eine ambulante Reha zu verordnen, die die Therapeuten und Mitarbeiter der Einrichtung, die Martin kennen , direkt in seinem bekannten Umfeld ausführen können.
Wie uns mehrere Ärzte berichteten, gibt es für Fälle wie Martin in BW keine, wirklich sinnvolle Rehaeinrichtung und man würde ihm sicherlich keinen Gefallen damit tun, Dinge zu erzwingen, die nicht möglich sind.
Vielleicht ist es möglich, durch Training der schrägen Bauchmuskeln wieder eine Kopf und Rumpfkontrolle zu erarbeiten, damit Martin etwas besser in einem Pflegerollstuhl sitzen kann. So, wie sein Zustand im Moment ist, geht es nur mühsam mit spezieller Lagerung und Fixierung, wie wir es nun auf der ITS schon gesehen haben.
Dazu kommt, dass Martin empfindlich auf Reizüberflutung reagiert und erst ganz langsam wieder einen Alltag zu bestehen, erlernen muss. Ob er das kann und will, wird sich zeigen. Alles braucht Zeit, Liebe und Geduld und viele, helfende, herzliche Hände.
Martin muss sehr oft gelagert und gesäubert werden, da sein Immunsystem auf null ist und er auch anfällig für Dekubitus ist, was auf der Intensivstation weitgehend verhindert werden kann, da ständig genügend Personal im Einsatz ist.
Nichts wird mehr so sein, wie es war und ich kann es Martin nicht verdenken, wenn er sich entscheiden sollte, diesen Weg nicht weiter zu gehen.
Im Moment ist es nur ein Leiden und Ertragen, von Allem, was den ganzen Tag über mit ihm geschieht.
Das Schlimmste, was unserem Kind passieren konnte, ist geschehen und es wird nur sehr minimal möglich sein, eine positive Änderung zu erarbeiten.
Montag, 8. Juni 2009
Wieder ein neuer Tag. Jürgen muss heute dienstlich nach München fahren und ist bis heute Abend nicht erreichbar. Ich habe wieder große Angst davor, was der heutige Tag uns bringen mag.
Als ich kurz nach 12 Uhr bei Martin war, wurde die, für heute geplante, Verlegung angekündigt, auf die Neurologische Station.
Martin wurde sehr nervös und nachdem wir im 8OG ankamen, hatte ich die Befürchtung, mein Kind fängt wieder an zu krampfen. Martins Augen gingen unruhig hin und her und er konnte sich auf nichts mehr einlassen.
Schon alleine die Fahrt mit dem Aufzug war für ihn Stress pur, dann die wenigen, neuen Gesichter dazu. Wieder ein Fensterplatz nach der langen Zeit macht ihm auch erst mal Angst und ich bin gespannt, wie mein Kind die Nacht übersteht und in welchem Zustand ich ihn morgen Mittag an treffe.
In seinem Köpfchen muss jedes neue Geräusch hallen und dröhnen und er hat eindeutig Angst. Wird er überhaupt je wieder eine Autofahrt überstehen können, wenn jetzt schon ein paar Etagen mit dem Fahrstuhl so schlimm für ihn sind?
Als Martin auf das Zimmer in der neuen Station kam, lag dort eine sehr liebe, nette Frau, die leider schon verlegt wurde nach drei Stunden. Nun liegt ein Mann bei ihm, der nur grummelig schaut und ich habe wieder noch mehr Angst um mein Kind.
Dienstag, 9. Juni 2009
Personalschlüssel auf dieser Station ist tagsüber 6 Pflegekräfte für 38 Patienten, wobei ein Großteil der Patienten einen sehr hohen Hilfebedarf hat. Ob Martin damit klar kommt, dass nicht mehr ständig Jemand um ihn ist und die Türen nicht weit geöffnet sind?
Die Pflegekräfte sind hier, auf dieser Station, nur am Rennen und wissen sicher nicht, welche Baustelle sie zuerst bearbeiten sollen. Warum nur muss diese Personalpolitik so unmenschlich sein?
Ich werde erst mittags wieder bei Martin sein, den ganzen Tag schaffe ich nicht mehr. Es ist sehr anstrengend und ich habe nur drei Tage frei von denen ich ein paar Stunden Ruhe für mich brauche nach der langen Zeit. Eigentlich haben Jürgen und ich vom Zeitaufwand her seit dem 29.4. jeden Tag, mehr wie Doppelschichten gefahren und wir müssen auf uns aufpassen.
Da Für Martin heute KG und Logo geplant ist, Betreuerin Siggi aus der Einrichtung, die wir gestern sofort angerufen haben, ihn besuchen will, hoffe ich, dass er die Stunden am Vormittag beschäftigt und begleitet ist und es ihm gut geht.
Die nette, ältere Frau von gestern Abend will ihn auch heute besuchen, wenn sie gut laufen kann. Es wäre für Beide so sinnvoll gewesen, sie hätte auf dieser Station bleiben können. Die Chemie hat so gut gestimmt.
20.00 Uhr
Irgendwie sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich besser doch so bald wie möglich zu Martin fahren sollte. So habe ich heute 9 Std. am Stück im KKH, an seiner Seite verbracht.
Siggi kam leider nicht zu Besuch und die Logopädin hat nach ihren Versuchen und Tests fest gestellt, dass es bei Martin zwar nicht ganz ausgeschlossen ist, dass er wieder schlucken lernt, aber im Moment ist wohl lebensnotwendig, dass er eine fest modellierte Trachealkanüle als Schutz bekommt, um zu verhindern, dass Sekret und was auch immer in die Lunge laufen kann, und um ihn optisch wieder ansehnlicher zu machen soll die Nasensonde entfernt und eine PEG gelegt werden.
Genau all das, was wir ganz bestimmt nicht wollten für Martin. Aber diese Anlagen jetzt ab zu lehnen wäre sein sicheres Todesurteil. Dann wäre der ganze Kampf bis hierher umsonst gewesen.
Danach könnte er dann auf seine Wohngruppe zurück verlegt werden, wenn er stabil bleibt, und eine ambulante Reha und seine vertraute Umgebung könnten ihn vielleicht wieder richtig auf wecken.
Im Moment ist noch nicht mal ein Würgereflex vorhanden und obwohl er die Aufforderungen der Logopädin verstanden hat, konnte er weder Lippen, Zunge noch Augen bewegen nach dieser eindeutigen Aufforderung.
Gegen 14 Uhr fing Martin dann wieder heftig an zu fiebern und gegen 16 Uhr wurde dann endlich Blut abgenommen, um die von mir schon so lange gewünschten Kulturen an zu legen, um den Übeltäter vielleicht endlich zu finden.
Jetzt bin ich völlig erledigt und war froh, als Jürgen dann kurz nach 17 Uhr kam und wir gemeinsam nach Hause fahren konnten.
Martin tut mir unsagbar leid, auf dieser Station wird nicht so oft nach ihm geschaut. Das Personal kann es nicht leisten, aber es sind wieder nette, kompetente Pflegekräfte im Einsatz, leider immer im vollen Stress. Der Monitor kann im Stationszimmer beobachtet werden und wenn Martin tachykard wird, schaut Jemand nach ihm.
Martin ist ansonsten den ganzen Tag über mutterseelenalleine und das will ich ihm nicht antun müssen.
Freitag muss ich wieder arbeiten, diesen Tag nimmt Jürgen Urlaub, die nächsten Tage kann ich Jürgen dann mittags ablösen, wenn ich Feierabend habe, aber, wir sind wirklich mindestens eine Person zu wenig zur Zeit.
Positiv ist auf dieser Station, dass die Ärzte auch mit uns reden, wenn sie ins Zimmer kommen. Das sind wir, so, gar nicht mehr gewohnt nach der langen Zeit auf der Intensivstation.
Trotzdem geht es uns Allen nicht besser nach dem heutigen Tag. Wir wissen nicht, ob Martin das Alles wirklich will und ob sich sein Zustand je wieder wirklich bessert.
Mittwoch, 10. Juni 2009
Mit Bauchschmerzen werde ich um 8 Uhr wieder bei Martin sein und hoffen, dass die Entscheidungen richtig waren. Wann die Eingriffe durchgeführt werden, war noch nicht klar. Dazu muss Martin stabiler und fieberfrei sein. So langsam müssten wir ein Gespräch mit der Einrichtungsleitung führen, die aber zu den Zeiten, zu denen wir Zeit hätten im Moment nicht erreichbar ist für uns, und von sich aus noch nicht versucht hat, auf uns zu zukommen. Wir haben keinen geregelten Tagesablauf mehr seit April.
20.00 Uhr
Heute waren es ganze 10 Stunden und es war kaum Zeit dabei, die nicht ausgefüllt war.
Als ich ankam im KKH wurde ich von Martin schon erwartet und er signalisierte mir, mit weinender Mimik, er möchte umgelagert werden. Es war einfach Zeit für ihn. Er muss hier solange warten, bis er versorgt wird und turnusmäßig sein Zimmer dran ist, der arme Junge. Klingeln kann er nicht, schreien kann er nicht, keine Möglichkeit auf Verständigung, wenn man ihm nicht direkt ins Gesicht schaut.
Martin weint sehr oft und braucht Trost in seiner Trauer um sich selber und er hat alle Gründe der Welt zu trauern.
Ein dynamischer Pfleger, ein wahrer Lagerungsspezialist, hat Martin heute Vormittag so spitzenmäßig gelagert, dass er sofort in tiefen, erholsamen Schlaf gefallen ist. Er lag wunderbar und wusste, ich sitze bei ihm, sogar die erste Atemtherapie über die Kanüle hat er verschlafen, so entspannt war er. Ich weiß ja auch nicht, wie lange er schon wach war und auf Erlösung gewartet hat am Morgen.
Die Logopädin geht sehr behutsam mit ihm um und respektiert seine Trauer. Sie geht auf mein Kind und seine Befindlichkeit ein. Es tut uns allen gut, dass Martin so gespürt wird von einer fremden Frau.
Am Freitag gegen 11 Uhr, soll die erste OP, das modellierte Tracheostoma, stattfinden. Wohl in der nächsten Woche, wenn Martins Befindlichkeit es zulässt, kommt die PEG dran und dann hoffen wir, kann Martin wieder nach Markgröningen zurückgehen, in seine Wohngruppe.
Heute kam Besuch von Karin, einer Mitarbeiterin der Gruppe und auch sie hat Martin mit einem Lächeln begrüßt. Er erkennt seine Leute, Gott sei Dank.
Morgen Mittag kommt Karin wieder für ein paar Stunden zu Martin, so dass ich tatsächlich bis zum Nachmittag zu Hause bleiben kann, welch ein Luxus. Jürgen deckt den Vormittag ab, was für Martin auch sehr wichtig ist. Jürgen wird auch immer mit einem Lächeln begrüßt, das ein Weilchen anhält. Welche Kraftanstrengung für unseren Mausebär.
Sollen die beiden Männer sich mit den Autozeitungen vergnügen und ihr Fachwissen austauschen. Martin wird sicher immer wieder einschlafen, aber es gibt ihm etwas Sicherheit, wenn er weiß und spürt, es sitzt Jemand an seinem Bett.
Nachmittags fahren wir dann beide zu Martin und wir hoffen, er kommt mit dem Tag gut klar.
An den Wochentagen ist ein Wahnsinnslärm um das KKH herum. Über Martins Kopf wird ein Stockwerk ausgebaut mit allen dazugehörigen Geräuschen und draußen hört man die Sirenen der ein und ausfahrenden Krankenwagen. Unten auf dem Gelände, um das KKH herum, waren heute mit lautem Gerät die Gärtner zugange. Morgen ist ein Feiertag und es wird einfach nur ruhig sein. Ich kann es mir gar nicht vorstellen wie sich Nichts anhört. Nichts stimmt nicht ganz, man kann den Wind hören, wie er um die 14 Etagen dieses Teils des KKH weht und pfeift.
Zwei unserer Nachbarinnen kümmern sich tagsüber ein Wenig um unseren armen Hund, der in den letzten Wochen so viel alleine sein muss. Was täten wir nur ohne diese Hilfe? Wie wäre es für den armen Nono, wenn er den ganzen Tag alleine sein müsste? Auch das ist Etwas, was ich nie wollte, ein Tier solange alleine lassen zu müssen. Normaler Weise bin ich ja immer gegen 13 Uhr zu Hause oder gehe gegen 15 Uhr, nun bin ich, sind wir, nur noch in der Nacht zu Hause.
Dank der Nachbarinnen, kann Nono wenigstens immer alle paar Stunden ein Weilchen in unserem Gärtle rum stromern bis wir wieder nach Hause kommen.
Von den alltäglichen Arbeiten bleibt hier, zu Hause, immer mehr liegen, aber es funktioniert nicht, dass auch das alles noch aufgearbeitet wird in dieser Krisenzeit.
Donnerstag, 11. Juni 2009 - Fronleichnam
Wir leben direkt neben der katholischen Kirche von Tamm seit 2002 , seit unserem Umzug aus dem schönen Norden hierher in den Süden , und die Teilnehmer der Fronleichnamsprozession begannen heute schon kurz nach fünf Uhr, sich zu treffen. Ich hörte die Autos kommen, Türen schlagen und munteres Stimmengewirr in den noch jungen, ruhigen Morgen hinein.
Ich wurde schon gegen vier Uhr wach. Rollstühle verfolgten mich im Traum, aber nicht ein Modell war dabei, das jetzt für Martin passend wäre.
Wir werden uns wahrscheinlich für den Anfang einen halbwegs passenden Rollstuhl von einem anderen Bewohner ausleihen müssen. Einige, gerade nicht benutzte Rollstühle stehen im Keller der Einrichtung. Dort werden wir auf die Suche gehen und dann in der entsprechenden Gruppe fragen, ob wir für 2-3 Monate den Rolli, der am ehesten passt, leihen dürfen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre, seit wir in BW leben müssen, haben uns gelehrt, dass, bis ein Hilfsmittel überhaupt mal bewilligt wird, Monate vergehen können und dann noch die Suche im Pool, das Umbauen, da kann gut ein halbes Jahr ins Land ziehen, ohne, dass wir die Vorgänge beschleunigen können. Was waren wir doch verwöhnt durch die unkomplizierte Arbeitsweise von Kasse und Sanitätshaus im schönen Norden. Hier ticken die Uhren leider einfach anders und es ist für uns nicht nachvollziehbar, warum überhaupt. Hier ist der Patientenkunde in keinster Art und Weise König.
Die Menge an Medis, die Martin nun inzwischen bekommt, ist erschreckend, aber er scheint die ganze Palette zu brauchen um nicht zu krampfen, und Herz und Kreislauf halbwegs vernünftig zu lenken. Dazu noch immer wieder ein neues Antibiotika und fiebersenkende Mittel.
Keppra
Vimpat, das neueste Mittel auf dem Markt und anscheinend mit guter Wirkung
Topomax
Luminal
Beloc Zok, er wird oft Tachykard
Amphomoronal- es hat sich ein Soor im Mundraum entwickelt
Movicol, allerdings bekommt er hier auf Station eine andere, hochkalorischere Sondennahrung als auf der ITS und der Stuhlgang ist eher zu dünn, ich hoffe, es wird nicht noch zusätzlich gegeben. Möglicherweise verträgt Martin diese Sondenkost auch nicht so gut. Vielleicht kann Jürgen heute Vormittag etwas dazu erfragen. Irgendwie machen sich die meisten Mitarbeiter nicht so viele Gedanken darüber.
Nun habe ich ein paar Stunden frei, zu Hause, und komme doch nicht zur Ruhe. Meine Gedanken gehen automatisch zu meinem Kind. Nebenan, in der katholischen Kirche ist der Gottesdienst in vollem Gange. Alle Nebenstraßen sind zugeparkt von den Besuchern. Obwohl wir evangelisch sind, würde ich gerne, nur für ein paar Minuten die Kirche betreten und beten. Da mir ständig die Tränen kommen, traue ich mich nicht. So habe ich , den Gesängen aus der Kirche lauschend, für ein paar Minuten in unserem Garten gestanden und heimlich an diesem Gottesdienst teil genommen und für mein Kind ein Gebet gesprochen. Der Chef wird es mir sicher nicht übel nehmen, dass ich mich in der falschen Abteilung bewege.
Unseren Hund habe ich endlich einmal wieder gebürstet, da er sein Winterfell zwar verliert, es aber nur sehr langsam unter seinem schwarzen Oberfell heraus fällt. So waren es große, dicke Fellbüschel, über die sich die Vögel sicher freuen zum Nestbau. Die Fellbüschel habe ich in unsere Hecke gesteckt, zur weiteren Verwendung und Selbstbedienung.
Heute gibt es seit Langem auch endlich wieder ein richtiges Mittagessen. Gemüseauflauf mit Huhn und zum Nachtisch Milchreis mit Apfel. Schon merkwürdig wie unwichtig auf einmal auch das Kochen und Essen wird, wenn die Seele leidet.
Die Fenster werden erst zum Winter wieder geputzt habe ich heute beschlossen, man kann noch hinaus schauen, das muss so erst Mal ausreichen.
Ab Mitte Juli habe ich Urlaub, dann kommt auch der Garten wieder ein wenig dran, der mir einfach wichtiger ist zur Zeit, als die Fenster. Die Kirschen, Johannisbeeren und Felsenbirnenbeeren müssen wir uns nach Kraft und Zeit mit den Vögeln teilen und Abends einmal durch den Garten huschen und naschen geht gerade noch so .
Sehr deutlich spüren wir die immer weiter aufkommende Anspannung unserer Seelen.
20.00 Uhr
Gegen Mittag hat Jürgen mit erlebt, dass Martin wieder sehr stark auf gefiebert hat und auch sein Kreislauf sehr darunter leiden musste. Zum Glück war gerade eine Schwester im Raum, die ihm Paracetamol geben konnte. Martin fiebert auf fallend fast immer ab Mittag.
Es könnte natürlich wieder die Lunge sein, die seit einigen Wochen betroffen ist, aber es könnte genauso gut der nie gefundene Infekt sein, das eigentliche Übel dieses Dramas, der immer noch in Martins Körper Unheil stiftet. Ob die Blutkulturen wohl bald ein greifbares Ergebnis aufweisen werden?
Obwohl, die Röntgenaufnahme von der Lunge von gestern soll laut Stationsarzt besser aussehen, als die Aufnahme vor drei Wochen, was immer das nun bedeuten mag. Gesund und frei ist Martins Lunge jedenfalls schon seit Wochen nicht mehr.
Karin war über Mittag bei Martin und hatte Martin mit der Schwester zusammen gelagert. In Martins jetzigem Zustand muss auf so viel Neues geachtet werden in der Versorgung, und es wird sicher noch Einiges dazu kommen. Es wird einfach gar Nichts mehr so sein, wie es war.
Am Nachmittag war Martin sehr müde, sein Blutdruck war sehr niedrig, die Herzfrequenz hoch. Wir haben ihm Einiges erzählt, zwischendurch ist er immer wieder mal eingeschlafen, vielleicht hat es ihn auch beruhigt, dass Jürgen und ich uns unterhalten haben. Die gewohnten Stimmen der Eltern erfüllten den Raum.
Vor dem Eingriff Morgen hat mein Kleiner große Angst. Wenn wir ihm das Alles nur ersparen könnten. Mir ist so gar nicht wohl dabei. Schon wieder Narkose, schon wieder wird geschnitten und genäht, diesmal mit Blutverlust. Wieder Schmerzen, Angst, weitere Veränderungen.
Jürgen kann bis zur Beruhigungsspritze bei Martin bleiben und bis ich nach Feierabend im KKH bin, hat mein armes Kind diese OP hoffentlich gut überstanden.
Ob ich heute Nacht schlafen kann, weiß ich nicht. Ich bin auch sehr aufgeregt und habe Angst.