8. Mai bis 14. Mai 2009

 

Freitag,  8. Mai 2009

 

Wie traurig dieses Bild auf uns wirkt, Martin mit dem Tracheostoma und  dem Beatmungsschlauch darin. Es habe nicht einmal geblutet und der Eingriff sei sehr gut verlaufen, teilte uns eine Krankenschwester mit.

 

Heute Morgen habe ich telefonisch bei der ITS darum gebeten, Martin aufgrund des frischen  Eingriffes,  die Arnica Globuli nun alle zwei Stunden zu geben bis übermorgen, immer wieder hoffend auf Hilfe durch diese Pflanze.

 

Martin steht  kalter Schweiß auf der Stirn und auf seinen Armen, der Kreislauf kämpft gegen die Medikamente und die Narkose. Was muss der kleine Mann noch Alles ertragen? Es reicht doch nun wirklich für den Rest seines, hoffentlich noch langen, Lebens.

 

Martin bekommt nun wieder Orfiril, nun in einer hohen Dosis, die er nie zuvor bekommen  hat um endlich wieder einen Spiegel auf zu bauen.

 

Die Leukos sind immer noch nicht im Normbereich, aber in vertretbarer Höhe, der Ammoniakwert ist endlich einmal wieder normal.

 

Ich könnte schreien und weinen und frage mich  nur immer, warum,  warum, warum? Welchen Sinn und Zweck soll dieser schlimme Verlauf eines Krampfanfalles haben und wodurch kam es wirklich dazu?

 

Der Oberarzt informierte uns darüber, dass die Narkose  für ein paar Tage weiter vertieft wurde, um endlich diesen Krampfanfall zu durchbrechen, und um kaum noch elektrische Impulse in Martins  Gehirn fließen zu lassen.- Dieser Krampfanfall, der  einfach nicht aufhören will und dabei ist, meinen Sohn zu zerstören, wie ein gefräßiges Monster,   immer mehr von seinem Leben abbeißt und verschlingt.

 

Jeder Tag länger könne Schädigungen verursachen, damit müssten wir nun rechnen. Auf der ITS lag, so ließ uns der Oberarzt wissen auf meine Nachfrage, ein Patient, der vier Wochen am Stück gekrampft hatte. Gelesen habe ich von einem Mann, der ganze vier Jahre nicht aus einem Status Epileptikus zu holen war. Wir sind nun in ein paar Stunden bei einer ganzen,  verzweifelten, kraftzehrenden  Woche angelangt.

 

Inzwischen haben wir auch große Angst, was die Zukunft bringen wird. Ob Martin je wieder alleine mit seinem E-Rolli seine Wege fahren kann, Besuche ohne Begleitung machen kann,   mit seiner Freundin alleine zum Imbiss der Klinik fahren kann, ob er wieder in der Werkstatt seine bescheidenen Tätigkeiten , auf die er immer so voller Stolz war,  ausführen kann. Er war doch so glücklich darüber, arbeiten zu dürfen. Kommen solche hammermäßigen, nicht zu greifenden Anfälle wieder, wird er früh genug vom Nachtdienst gefunden, kommt er rechtzeitig genug ins KKH in die richtigen Hände und Behandlungen?

 

Wie kann das Personal der Gruppe mit der neuen, kritischen Situation und der immer knapper werdenenden Zeit umgehen? Fragen über Fragen bohren  quälend in uns.

 

Heute hat uns der kleine Mausebär wohl überhaupt nicht wahrgenommen. Er war zu weit weg narkotisiert. Ich habe keine Verbindung gespürt, nur für einen ganz kurzen Moment, als ich meine Hand auf sein Köpfchen, zwischen die Elektroden für die EEG Aufzeichnung, gelegt habe,  und ein Gebet  für mein Kind gesprochen habe.

 

Wie kostbar Zeit doch werden kann. Ich wünsche mir Martins gesunde Zeit wieder zurück und will, dass er wieder richtig glücklich leben kann. Wünsche mir so sehr, dass mir Jemand sagt, der Anfall ist bald vorbei, Alles ist gut,  und so was kommt nie wieder.

 

In Gedanken bin ich immer an Martins Seite-egal wo ich mich befinde, stehe neben seinem Bett, höre die Geräusche der Apparate, die Geräusche der anderen Patienten, das Reden und Lachen des Personals, das so wichtig ist als Hintergrundgeräusch für die gequälten Seelen.

Es gibt Nichts, was mich trösten kann, mein Kind soll wieder aufwachen und so glücklich sein dürfen, wie Es immer war.

 

Ich liebe meine drei Kinder so sehr und will doch, dass es Allen gut geht. Welchen Handel kann ich dem Himmel vorschlagen, damit er Martin wieder Martin sein lässt?

 

Wer kann Martin noch helfen und wie?

 

 

Samstag,  9. Mai 2009


Das Lied „ über den Wolken „ von Reinhardt Mey geht mir heute nicht aus dem Kopf.

 

Wie oft habe ich Martin körperliche Freiheit gewünscht. Als die Kiddis noch klein waren, habe ich so oft geträumt, dass Martin ganz normal laufen kann, seine Hüften ganz normal sind, seine rechte Körperseite nicht gelähmt ist und dass sein rechtes Auge sehen kann.

 

Trotz seiner schweren Behinderung war Martin immer ein glückliches, herzliches Kind. Das so viel Liebe geben kann und Menschen einfach an nimmt, wie sie sind, nicht bewertet und er kann sehr schnell verzeihen, ist nicht nachtragend.

 

Natürlich gab es auch es entwicklungstypische Trotzphasen und Machtkämpfe, aber im  Verhältnis zu anderen Kindern und Jugendlichen war Martin immer pflegeleicht. Ein Menschenwesen, Das immer wieder die Herzen berührt hat, jeden Tag aufs Neue.

 

Die Frühschicht, die ich gestern wieder übernehmen musste, habe ich relativ gut bewältigen können.

 

Der geteilte Dienst, heute am Samstag fällt mir sichtlich schwer.

 

Ich habe das Gefühl, kleiner geworden zu sein und dass die Krümmung meines Rückens im Halswirbelbereich noch krummer geworden ist, als sie eh schon seit ein paar Jahren ist. Meine Schritte sind langsamer und schwerer geworden.

 

Dabei arbeite ich wirklich gerne, bin gerne hier im Haus. Liebe die Bewohner und Kolleginnen. Im Pflegebereich bin ich genau richtig und doch spüre ich  jetzt, dass meine Kräfte einfach schwinden. Aber ich will doch stark sein, unbedingt, und gerade jetzt.

 

Früher, wenn Martin krank war, durfte er mit im großen Bett schlafen. So konnte ich Ihn die ganze Nacht im Arm halten und ihm Sicherheit geben und meist war am anderen Morgen wieder Alles gut, oder zumindest besser und nicht mit dieser schmerzenden Angst besetzt.

 

Wenn es doch dieses Mal auch nur so einfach wäre.

 

Meine Arbeitsstelle ist nur fünf gute Fußminuten vom KKH entfernt und mein Herz hat eine Standleitung zu Martin aufgebaut. Immer noch bin ich parallel zu Allem, Was ich tue auf der ITS im 3. Stock bei meinem Kind, mit großer Angst im Bauch die immer noch größer wird und entsetzlich weh tut.

 

Gestern Abend hatte ich, während eines heftigen Gewitters noch einen Einsatz in der Nachbarschaft, bei einem 92 jährigen Herrn, den ich schon 6 Jahre lang besuche. Während ich ihn rasierte, erzählte er mir, er habe geträumt, dass Martin stirbt und er würde sonst nie Viel träumen.

 

Der alte Mann wollte mich nicht verletzen mit seinen Worten, aber sie trafen mich, wie der heftige  Hieb mit einer Axt, Der versucht, einen wichtigen Teil von mir zu entfernen.

 

Will mir der Himmel etwa so mitteilen, dass wir uns wirklich und wahrhaftig jetzt schon auf einen ungewollten Abschied einstellen müssen?

 

Und draußen und überall geht das Leben weiter. Schon in der Frühe wurden in Ludwigsburg Stände für den großen Stadtflohmarkt heute am Samstag aufgebaut, den wir unter normalen Umständen sicher auch besucht hätten.

 

Die Bewohner meiner Arbeitsstelle holen mich zwischendurch in die lebendige Realität zurück.

 

Eine alte Dame will wissen, wie die Kräuter alle heißen, die auf einem Hochbeet der Sinne im Atrium angepflanzt sind.

 

Ich benenne und erkläre die Kräuter, erzähle, welche Tees und Tinkturen man aus diesen wunderbaren Pflanzen machen kann und bemerke nicht gleich, dass meinen Ausführungen inzwischen fünf Damen interessiert zuhören.

 

Dann fallen mir sofort wieder die Arnica Globuli ein für Martin. Ich streichle und lobe die Pflanzen hier vor mir und hoffe, dass eine andere Pflanze meinem Kind helfen kann. Pflanzen wissen, für welchen Zweck sie leben und wachsen. Sie sollen uns erfreuen, heilen und ernähren, eine Jede auf ihre Art.

 

Trotzdem würde ich liebend gerne einfach die Zeit zurück drehen können und drei Wochen vorher einen anderen, sinnvolleren , bewussteren Weg einschlagen können um vielleicht diesen schrecklichen Anfall und die Blutung zu verhindern .

 

In Gedanken bitte ich Martin um Verzeihung, nicht das Richtige zur richtigen Zeit veranlasst zu haben, ihn nicht gründlich genug angeschaut und gespürt zu haben in seiner Not

 

Hätte ich ihm und uns dieses quälende Leid ersparen können, oder wäre es so oder so zu solch einem Anfall, Unglück,  gekommen?

 

Wenn mir doch Jemand nur alle meine Fragen beantworten könnte und mir sagen könnte, was nun das Richtige ist und wie es weiter geht. Wenn ich nur nicht meine ganze Kraft, die immer weniger  wird,  verliere.

 

12.00 Uhr

 

Jürgen kommt mit zwei Dönern und wir essen sie schnell im Büro meiner Dienststelle. Beide haben wir Angst vor weiteren Hiobsbotschaften. Da ich geteilten Dienst habe, habe ich nun ein paar Stunden frei.

 

An den Wochenenden dürfen wir nun anrufen auf der ITS, fragen, ob wir früher kommen können  und wenn es dann machbar ist, bekommen wir das Okay. So stehen wir heute um 12.3o Uhr an Martins Bett. Die Linien auf dem Monitor sehen ruhig aus und die nette Schwester kommt auch gleich um uns zu informieren. Sie hat, als wir kamen umgehend Rücksprache mit dem Oberarzt gehalten und darf uns informieren.

 

Gestern Abend nun wurde beschlossen, die Narkose noch tiefer zu legen, als sie am Nachmittag schon  lag. Das Orfiril sei in einer noch höheren Dosis eingegeben um einen hohen Spiegel zu erreichen. Und nun sei zumindest nuter  diesen Dosierungen der Krampfanfall  endlich durchbrochen. So soll es nun zwei Tage laufen und dann wird am Montag den 11. Mai wieder versucht, das Narkosemittel aus zu leiten, in der Hoffnung, dass dieser schreckliche Anfall dann wirklich beendet ist.

 

Da die Narkose nun so tief ist, muss die Beatmung wieder ganz über das Beatmungsgerät laufen.

 

Im Moment haben wir wieder Hoffnung, dass dieses schreckliche Gewitter in Martins Gehirn wirklich ein Ende genommen hat.

 

Vielleicht können wir am Dienstag schon erfahren, wie lange die Intensiv und Halbintensivzeit nun geplant werden kann. Vielleicht auch, wie es nun für Martin weiter gehen könnte, wie engmaschig er kontrolliert und begleitet werden muss.

 

Durch die hohe Gabe Orfiril seit gestern Abend, ist nun leider der Ammoniak Wert wieder erhöht, aber er wird sich hoffentlich wieder regulieren und bitte keinen erneuten Schaden anrichten.

 

Eine Krankenschwester hat es uns besonders angetan auf der ITS und ich hoffe sehr, sie hat Dienst, wenn Martin am Aufwachen ist. Schwester K., eine strahlende, herzliche junge Frau, mit einem bezaubernden,   ehrlichen Lachen. Insgesamt können wir bis jetzt der ganzen Station die Note 1+ geben. Wir sind wirklich zu 100% zufrieden  mit dem Ablauf und den Mitarbeitern, die wir bis jetzt erlebt haben.

 

Und mittendrin durften  wir nun diese ganz besondere, junge Krankenschwester kennen lernen.

 

Genau Martins Kragenweite und für ihn sicher genau passend, wenn er wieder bewusst seine wunderschönen Augen aufmachen kann, um ins Leben zurück zu finden. So gut kenne ich mein Kind um zu spüren, wer ihm wirklich gut tut. Diese Krankenschwester hat er wohl auch, in einem kurzen Moment, indem er die Augen kurz geöffnet hatte, fixiert. Sogar in diesem jämmerlichen Zustand filtert Martin Stimmen und Schwingungen heraus für sich.

 

Menschen mit dem sympathischen Wesen dieser jungen Frau sind so kostbar und haben alleine durch Anwesenheit heilende Wirkung. Ganz besonders auf einer Station, auf der Angst und Trauer vor herrschen.

 

Morgen hat Jürgen Geburtstag. Auf Wunsch unserer „ Kleinen“ müssen wir zu solchen feierlichen Anlässen, immer zu MCD zum Essen fahren. Wir lassen es gerne über uns ergehen, wenn es den Mäusen immer noch so viel Freude macht, warum nicht.

 

Diesen Besuch nun, werden wir allerdings vertagen, bis es auch Martin wieder möglich ist, mit uns zu fahren. Ohne ihn ist es einfach keine wirkliche Freude mehr,  auch nur Irgendetwas zu feiern.

 

Älter wird Jürgen so oder so und noch etwas mehr, durch den Verlauf der letzten Wochen. Die Erfahrungen, die wir in den letzten Tagen machen mussten, waren sehr schmerzlich und haben von unserer vorhandenen Kraft reichlich Anteile verbraucht.

 

Noch zwei Tage Geduld und Hoffnung und dann die große Bitte an alle positiven Kräfte im Universum, bitte helft unserem Kind zurück ins Leben und steht im bei auf seinem weiteren Lebensweg.

 

Wir wünschen uns nur, dass es allen unseren Kindern wieder gut gehen soll. Besonders auch Ricky, der so viel zurück stecken musste und noch immer zurück stecken muss, weil er zwei kleine Geschwister bekommen hat, mit ganz besonderen Bedürfnissen, die immer mehr Hilfe und Zuwendung gebraucht haben auf ihrem Weg ins Leben und Die auch heute immer noch unsere Zeit und Kraft brauchen.

 

 

Sonntag, 10 . Mai 2009 - Jürgens 53. Geburtstag und Muttertag

 

Dies ist der erste Muttertag, der mir überhaupt etwas bedeutet. Ich,  Brigitte, Mutter von drei Kindern, möchte meinen Sohn Martin nicht verlieren müssen. Er gehört zu mir, ist ein Teil meines Lebens und ich habe ihn in Liebe aufgezogen damit er leben kann und glücklich ist.

 

Aber im Moment schwindet meine Hoffnung wieder.

 

Auf der ITS wurde von den Ärzten beschlossen, die tiefe Narkose noch einen weiteren Tag zu belassen. Ein fast nicht lösbares Problem ist aufgetreten und zeigt keinen erkennbaren Grund an.

 

Martins Blut baut keinen Medikamentenspiegel mehr auf, egal wie hoch ihm die Medikamente zugeführt werden. Die Leber wird nicht mehr können, durch die jahrelangen Medikamenteneinnahme, auch wenn die Blutbilder immer okay waren, scheint doch eine erhebliche Schädigung vor zu liegen, vermute ich nun, nach Allem, was ich nachlesen konnte und selber weiß.

Solange der Ammoniakwert höher ist, wird es sicher  weiter Vergiftungserscheinungen geben.

 

Morgen soll ein weiterer Neurologe mit hin zu gezogen werden, den ich im Laufe des Tages anrufen, oder nachmittags vielleicht auch treffen kann. Er soll mir klipp und klar die Wahrheit sagen, wie es mit Martins Organen wirklich aussieht und wenn noch ein Fünkchen Hoffnung besteht, Alles für mein Kind tun und veranlassen.

 

Ich bitte darum mit anderen Kliniken oder Epilepsiecentren Kontakt auf zu nehmen, um nach ähnlichen gelagerten Fällen zu forschen. Irgendwoher muss doch endlich Hilfe kommen, damit Martin wieder aufwachen kann und weiter leben darf.

 

Jürgen und ich sind verzweifelt und ratlos. Wir wissen einfach nicht mehr weiter und wie wir Martin, durch Was, noch helfen können.

 

Wenn das Alles eine Strafe für mich sein soll, dann muss ich noch mehr Fehler in meinem Leben begangen haben, als mir bis heute bewusst sind und wenn es eine Prüfung sein soll, dann kann ich nicht erkennen wofür.

 

Warum muss Martin so leiden? Er hat noch nie in seinem Leben etwas wirklich Böses getan und sicherlich noch nicht einmal gedacht. Er war immer ein herzensguter, lieber Mensch, der seinen Mitmenschen wohl gesonnen war. Natürlich hat er sich nicht Alles gefallen lassen, aber Martins Herz ist rein, wie sicher kein anderes Herz.

 

Wir kämpfen hier und jetzt so sehr um Martins Leben, hoffen und bangen, ihn nicht zu verlieren und an anderen Stellen tun junge Menschen gedankenlos Alles dafür  , ihr kostbares Leben  und das Anderer zu zerstören. Drogenmissbrauch, Komasaufen, Gewalt, Töten. Mein Herz beginnt zu schmerzen. Welch ein Leid wird über viele Familien gebracht und müsste nicht sein. Was passiert mit unserer Welt? Was ist in den Jahren, in Denen ich aufgewachsen und alt geworden bin nur geschehen?

 

Im Moment bin ich froh, dass meine Arbeitsstelle nur eine 40% Stelle ist, auch wenn ich so nur sehr wenig Geld verdiene. Morgen habe ich frei, habe erst am Dienstag wieder Frühdienst  , und so kann ich mich voll und ganz auf mein Kind konzentrieren, beten, hoffen  und in Ruhe, sofern ich davon überhaupt noch reden kann, am Mittag zu ihm ins KKH fahren.

 

Jürgen möchte ich ein paar Tage KKH Pause einräumen, solange Martin noch nicht aufwacht. Die Sorgen und Angst um Martin nagen so sehr an ihm und wenn er an Martins Bett steht, geht es ihm immer schlechter, von Tag zu Tag.

 

Wir können es nicht verstehen und doch ist es passiert. Auf einmal ist Alles anders.

 

 

Montag, 11. Mai 2009

 

Telefonisch habe ich mir bei einer Ärztin der ITS die Morgeninfos geholt.

 

Martin soll weiter in Narkose bleiben, immerhin ist im Moment der Orfirilspiegel wieder bei 56 % also im unteren, therapeutischen Bereich, leider ist der  Ammoniakwert schon wieder bei grässlichen 80%. Ein Kreislauf ohne Ende.

 

Ein neurologisches Konzil fand statt, ein neues EEG ist gerade geschrieben worden, aber noch nicht ausgewertet.

 

So kann ich etwas vorbereitet zu Martin fahren. Seine kalten, leichenblassen Finger der letzten Tage gehen mir nicht mehr aus dem Sinn.

 

Ich habe das Gefühl, als ob wir uns im Moment auf einer Zwischenebene, genau in der Mitte, zwischen dem Himmel und der Erde befinden. Welcher Weg ist der Beste für Martin? Wo will er jetzt hin gehen? Was ist für mein Kind das Beste? Wobei kann ich Martin besser unterstützen? Für welchen Weg soll ich beten? Mit welchem Recht will ich nicht, dass er geht, wenn es für ihn so vor bestimmt sein sollte? Habe ich überhaupt das Recht mein Kind  in meinem Leben halten zu wollen? Schade ich meinem geliebten Kind, seiner Seele, mit meinem Willen, meiner egoistischen Liebe? Es heißt doch, wer liebt muss auch los lassen können. Ist es Das, was ich jetzt üben und lernen soll? Ist diese Prüfung für mich bestimmt? Muss ich mich ändern? In welchem Buch kann ich darüber nachlesen? Wo finde ich jetzt meinen Lehrer? Aber wenn es mich betrifft, wieso muss mein Kind so schreckliches Leid erfahren?

 

Auf der ITS sehen wir Menschen gehen, auf andere Stationen und Menschen kommen. Ich habe das Gefühl, Martin ist schon ein alter Stammpatient und lange dort, ohne dass er diesen unfreiwilligen Aufenthalt bewusst mit bekommt.

 

Schon am zweiten Tag habe ich viele Infos und Fotos über Martin und sein Leben auf der Station hinterlassen. Ich will, dass der Mensch, der Martin immer war, hinter dem narkotisierten, bleichen  Körper gesehen wird. Dass er als Martin angesprochen wird, wie ein wacher Martin. Es ist mir wichtig, dass er nicht „zu der Hirnblutung oder dem Status“ reduziert wird. Er ist mein Sohn und noch ist er am Leben. Ich liebe ihn.

 

18.00 Uhr

 

Immer noch tiefe Narkose, Martin braucht nun auch Insulin, die Blutzuckerwerte sind zu hoch, eine der Nebenwirkungen der Narkosen und Medikamente.

 

Die EEG Auswertung sei erst Morgen soweit.

 

Es tut so weh Martin so zu sehen, nun schon ganze 11 Tage. Wieder warten auf einen neuen Tag, eine hoffentlich gute Nacht für uns Alle.

 

Morgen habe ich wieder Frühdienst, kann um 10 Uhr auf der Station anrufen, hören ob es endlich positive Neuigkeiten gibt und Nachmittags wieder für ein paar Stunden mein Kind anschauen, berühren und streicheln.

 

 

Dienstag, 12. Mai 2009

 

Welch ein Trauerspiel. Auf dem EEG von gestern ist immer noch erhebliches Krampfpotential zu sehen, die Narkose bleibt weiter so tief, noch ein weiteres Medikament wird dazu gegeben.

 

Erst wenn keine Krampfanzeichen mehr da sind, wird an aufwachen gedacht, er hätte ja schließlich Blut im Kopf, ließ mich die diensthabendende Ärztin wissen.

 

Kalter Schweiß steht wieder auf Martins Haut, er fiebert wieder hoch und ich habe im Moment kein gutes Gefühl mehr. Wie lange kann ein Körper so eine Intensivnarkose überhaupt aushalten? Was wird noch Alles durch dieses Tiefschlafmittel zerstört? Was passiert mit den wenigen, noch gesunden Zellen seines Gehirnes, den Zellen seines Körpers?

 

Das Fieber könne auch Zentral entstehen, im Moment muss sehr viel Sekret aus der Lunge abgesaugt werden, Antibiotika hätte Martin schon bekommen, nun müsse man warten.

 

Und, dann , das erste Mal seit wir Martin auf der ITS besuchen, werde ich von der gerade diensthabenden Pflegekraft aufgefordert, raus zu gehen, solange sie ihn richtet und umlagert. Ich biete an, ihr beim Lagern zu helfen, dass ihre Kolleginnen uns immer fragen, ob wir mit helfen wollen. Sie will es nicht, und ich muss in den Warteraum gehen. Ich frage mich, was Das nun sollte und nehme mir vor, Nichts dazu zu sagen. Über 20 Jahre habe ich Martin versorgt, und auch in der Wohngruppe käme Niemand auf die Idee, uns raus zu schicken bei pflegerischen Verrichtungen an ihm. Wozu auch? Für Martin ist es okay, wenn wir auch bei diesen Handlungen bei ihm sind. Er würde uns wissen lassen, wenn es ihm nicht mehr gefällt.

 

Nach 12 Minuten darf ich wieder zu Martin gehen, setze mich auf einen Stuhl neben sein Bett und ergreife seine Hände. Wie lange wird das wohl noch möglich sein?

 

Ein Pfleger kommt in den Raum. Er hatte mich gestern schon überrascht, als ich mich gerade von Martin verabschiedet hatte und gehen wollte.  Gestern  wollte er wissen, ob ich etwas brauche oder einen Kaffee haben möchte. Solche Worte waren mir bislang fremd hier. Ich bedankte mich bei hm, sagte, dass ich gerade gehen will, aber dass er bitte auf mein Kind aufpassen soll, ich brauche es noch.

 

Heute nun fing er mit mir ein ganz normales Gespräch an. Stellte Fragen über Martin und wie wir mit seiner  Versorgung bislang klar kamen. Wie er lebt und was er macht und mag.  Und es war ein ernstes Anliegen des Pflegers, von mir Antworten zu bekommen. Es tat gut, endlich einmal normal behandelt zu werden hier, im Land der Trauer. Öfters schon hatte ich das Gefühl, als Angehörige nur den Tagesablauf zu stören oder im Weg herum zu stehen oder zu sitzen, Zeit zu stehlen durch eventuelle Fragen oder Anwesenheit.

 

Der junge Mann  arbeitet schon 12 Jahre auf der ITS, will es aber nicht bis zur Rente machen. Kann ich gut verstehen, dieser Job fordert eine Menge Kraft ein, wenn man ihn auch mit dem Herzen macht und nicht nur funktional.

 

Martins  Geschichte berührt ihn, besonders wenn hier Kinder und Jugendliche eingeliefert werden, geht es ihm nah, er hat wohl auch Kinder. Dieser nette Mensch empfindet genau Das, was ich hier spüre, diese Zwischenwelt. Sie ist da, auch wenn alles sehr steril aussieht. In diesen Räumen gibt es noch mehr, als Das, was für die Augen sichtbar und für die Ohren zu hören  ist

 

Ich hoffe nur sehr, dass Martins Zustand nie den Anlass für eine Reanimation gibt. Das würde er sicherlich nicht wollen und ich bezweifle sehr, dass mein Kind mit noch weiteren Einschränkungen wirklich leben will und kann. Wir lassen schweren Herzens dokumentieren — bitte keine Kardiologische Reanimation — aus Liebe zu unserem Kind.

 

So wie sein Leben war, war Martin glücklich und er ist wirklich dann schwer behindert, wenn jetzt noch weitere Defizite, Einschränkungen dazu kommen, dann ist mein Kind wirklich richtig behindert in seinem Sein.

 

Wenn ich jetzt nur wüsste, was Martin zu diesem Thema wirklich heute sagen würde. Als er klein war, hat er mir immer wieder, wenn er nach Anfällen  aufgewacht ist,  gesagt, dass er noch nicht in den Himmel möchte, dass er hier, bei uns, auf der Erde bleiben will.

 

Und heute, nach Allem, was in den letzten Wochen geschehen ist? Hat er sich vielleicht den Himmel schon ansehen können und wurde mein Kind wieder zurück geschickt, weil ich nicht will, dass er schon den Raum wechselt?

 

Meine Schultern schmerzen, es ist so viel,  was im Moment auf Ihnen liegt. Ich spüre tatsächlich körperlich den Druck dieser Last.

 

Immer mehr Menschen beten für Martin und denken an ihn. Hat denn all Das nicht genug Kraft, ihn uns zurück zu geben?

 

Die beste Mutter war ich sicher nie, und viele Fehler, die ich früher machte, würde ich mit dem heutigen Stand der Erfahrung nie mehr machen. Vieles wusste ich oft nicht besser oder hatte es selber nicht anders gelernt. Aber geliebt habe ich meine Kinder, immer, auch wenn sie es vielleicht manchmal nicht gespürt haben. Nie wollte ich,  dass es einem meiner Kinder schlecht geht. So gut ich konnte, habe ich sie beschützt, auch wenn ich sie aus dem Nest werfen musste, damit sie selbstständiger, vernünftiger  werden konnten. Habe ich verdient, eines meiner Kinder schon so früh verlieren zu müssen? Kann ich noch etwas ändern, damit wieder Alles gut wird?

 

 

Mittwoch, 13. Mai 2009

 

Es macht keine Freude mehr auf zu wachen. Es funktioniert nicht mehr gut, einschlafen zu können und die Angst vor jedem neuen Tag macht sich immer breiter. Kann es nicht Alles nur ein böser Traum gewesen sein und wenn ich wieder aufwache, ist Alles wie vorher?

 

In den letzten Tagen sind hier häufig starke Gewitter und Gewitter reinigen die Luft. Können sie nicht auch diese Störungen in Martins Leben bereinigen?

 

Ich war mir so sicher, dass Martin immer munter so weiter leben kann, dass sich sein Gehirn daran gewöhnt hat, keine großen Krampfanfälle mehr zu produzieren.

 

Es ist noch  nicht absehbar, wann der nächste Versuch unternommen werden kann, die Narkose raus zu nehmen. Was in der Zwischenzeit mit Martins Gehirn geschieht, kann uns auch Niemand sagen. Es gibt angeblich keinen bekannten, vergleichbaren Fall. Martin ist eben auch in dieser traurigen Geschichte etwas ganz Besonderes.

 

Morgen ist er genau 2 Wochen im Tiefschlaf. Mein Kind sieht elend aus. Seine Gesichtshaut fühlt sich jetzt fast an wie Leder, sein Bäuchlein ist voller Luft und fest. Heute war ich beim Ultraschall dabei. Bis auf die viele Luft sind die Organe glücklicherweise noch unauffällig. Der Rest ist eh schon ausreichend genug.

 

Ich weiß nicht mehr, ob Martin mich spürt in irgendeiner Form. Es kostet mich immer mehr Kraft, ihn so zu sehen. Hilflos und traurig, so ausweglos ist Alles im Moment.

 

Am Samstag werden wir ihm die Haare mit der Maschine schneiden. Irgendwie wird es schon klappen meinte die Krankenschwester, die ich heute darauf ansprach.

 

Martins dunkelblonde Haare kleben und stören inzwischen beim Kleben der Elektroden und Martin schwitzt auch so sehr. Es ist sehr warm in seinem Raum und er fiebert noch häufig.

 

Ein neues EEG wurde heute wieder geschrieben, ob es dann Morgen etwas Neues gibt? Können wir endlich, endlich raus aus dieser Warteschleife zum Jenseits?

 

Morgen habe ich wieder Frühdienst, danach gehe ich zu Martin. Freitag habe ich Spätdienst, davor besuche ich mein armes Kind, vielleicht spürt Martin  mich ja doch ein wenig und wie sehr ich ihn liebe und brauche, und dass ich bei ihm bin.

 

 

Donnerstag, 14. Mai 2009

 

Nun sind es wirklich ganze zwei Wochen, die Martin auf der Intensivstation liegt, in Narkose und dann auch noch in tiefer Narkose, die sicher einen riesigen Elefantenbullen in einen Tiefschlaf versetzen würde.

 

Seine Haut ist inzwischen in den Bereichen, an die vor dem Supergau auch nicht so viel Tageslicht kam, weiß wie ein Blatt Papier. Ein paar helle Pigmentflecke sind zu erkennen und nur noch das Gesicht und die Arme haben einen leichten Schimmer davon, dass sie einmal eine lebendige, gesunde  Farbe hatten.

Das EEG von gestern war wohl ein winzig kleines bisschen besser, als das EEG davor. Die tiefe Narkose durfte etwas minimal gelockert werden, ist aber immer noch in einem Bereich, der vom Aufwachen weit entfernt ist.

 

Martins  Blutdruck ist verhältnismäßig hoch im Moment, der Urin in dem Beutel, der am Bett hängt, merkwürdig rötlich verfärbt  und Martin schwitzt weiterhin sehr. Seine feuchte Haut überall dauert mich so sehr. Was muss er Alles aushalten und immer noch wird es nicht weniger. Kein Tag war wirklich gut seit dem 1.Mai.

 

In mir wird das Gefühl, dass wir Alle dringend raus müssen aus dieser Station immer stärker. Zwei Wochen sind mehr wie genug und inzwischen mehr, als ich ertragen kann.

 

Wie gerne würde ich mein Kind einfach so mitnehmen können, raus, an die Luft und in die Sonne. Einfach ganz unkompliziert  mit Martin runter fahren, in die Cafeteria und ein Eis essen gehen, lebendige Menschen beobachten und wissen, wann er als geheilt entlassen werden kann.